Engadiner Post: Herr Sivertsen, wie heissen die nächsten grossen Stars im Schneesport aus unserer Region?
Odd Kare Sivertsen: Da muss man im Moment sicher Isai und Noe Näff aus Sent erwähnen. Beide Langläufer, beide sehr gut. Ich persönlich finde, dass Isai noch besser ist als Dario Cologna. Aber auch Giuliana Werro aus Zernez ist sehr gut unterwegs, ebenfalls im Langlauf. 

Wie erkennen Sie diese Talente, worauf kommt es an?
OKS: Talent ist nicht das Wichtigste, also muss man das auch nicht unbedingt erkennen. Viel wichtiger ist Training, denn Ausdauer und harte Arbeit schlagen Talent, nicht nur im Langlauf, sondern sogar im Fussball. Eine Faustregel sagt, dass etwa 10 000 Stunden Training nötig sind, bis sich die ersten guten Leistungen einstellen. Das entspricht etwa zehn Jahren à 1000 Stunden Training.

Und dabei bleibt‘s beim Training oder kommen noch andere Mittel dazu?
OKS: Bei uns bleibt es beim Training, ich bin immer noch davon überzeugt, dass man Rennen auch ohne zusätzliche Substanzen gewinnen kann. 

Dann kann man aus allen Olympiasieger machen.
OKS: Grundsätzlich schon, weil dazu eben vor allem das Training entschei­dend ist. Giuliana Werro beispielsweise hat ganz einfach mehr trainiert als andere. Aber natürlich gibt es auch körperliche Voraussetzungen, die dabei helfen. 

Kurt Baumgartner: Es braucht auch noch eine robuste Gesundheit und vielleicht auch ein wenig Glück zum Erfolg.

Grundsätzlich ist Ausdauer also wichtiger als Talent?
OKS: Ja, bestimmt, es braucht Biss und Willen und gute Strukturen, wie wir sie bieten können. Thomas Tumler beispielsweise, der jetzt mit 34 zum ersten Mal einen Weltcup-Riesenslalom gewonnen hat, wurde von Swiss-Ski nicht gefördert, wir haben ihn im HIF trainiert. Wohl hat er zehn bis 15 Jahre bis zu seinen grossen Erfolgen gebraucht, aber er hat durchgehalten. Ohne gute Strukturen würde er schon lange nicht mehr Ski fahren.

Kurt Baumgartner: Meiner Tochter hat allenfalls der Biss ein wenig gefehlt, deshalb hat sie vielleicht aufgehört, intensiv Skirennen zu fahren. Dafür betreibt sie jetzt im Studium an der ETH quasi Spitzensport und ist in der Freizeit mit Begeisterung Skilehrerin. 

Dann braucht es nicht unbedingt Extratalent für die Sportklasse?
OKS: Nein, grundsätzlich können alle kommen, die wollen und Freude am Sport haben. Eine gewisse Leistungsbereitschaft müssen sie aber schon mitbringen. Vor der Pubertät kann man eigentlich keine Vorhersagen zur Karriere treffen, das wird erst danach möglich, wenn man sieht, wie die körperliche Entwicklung verläuft. 

Und was kostet die Sportklasse respektive wer bezahlt?
Kurt Baumgartner: Auch dank des Fördervereins können einheimische Sportlerinnen und Sportler in der Sportklasse HIF für 2000 Franken pro Jahr trainieren. Die effektiven Kosten pro Sportlerin oder Sportler sind um ein Vielfaches höher und werden glücklicherweise mehrheitlich von der Region getragen. Damit dies aber weiterhin möglich ist, sind wir auch auf Sponsorengelder angewiesen. Unser Ziel wäre es, ein Jahresbudget von mindestens 100 000 Franken zu erreichen, letztes Jahr war der Betrag massiv darunter und weit weg von den besten Jahren. Unser Ansatz geht dahin, dass wir neben zwei, drei Hauptspon­so­ren viele kleinere Beträge akquirieren möchten. Wir müssen hier ja auch die Möglichkeiten der Region richtig einordnen und keine unrealistischen Träume haben. Der Förderverein sollte in der Region fest verankert sein, unter dem Motto «aus der Region für die Region». 

Wie viele schaffen schlussendlich den Durchbruch?
OKS: Auf die Medaillenränge im Spitzensport schafft es vielleicht ein Prozent all derjenigen, die begonnen haben. Aber auch für diejenigen, die nicht ganz nach vorne kommen, ist das eine wichtige Zeit und eine gute Lebensschule.

Und wie erklärt man es all denen, die es nicht schaffen?
OKS: Das merken sie schon selber, das muss man nicht gross erklären. Aber die Zeit in der Sportklasse war auf jeden Fall wichtig, eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung und eine gute Kombination mit der Schule. Es ist auch nicht unser Ziel, dass alle Olympiasieger werden. 

Kurt Baumgartner: Für die Kinder ist es auch wichtig, dass sie Teil eines Teams sind, zusammen Dinge erleben, die sie alleine nicht erleben würden und dann diese Erinnerungen teilen können. 

Die Sportklasse hat schon grosse Sportlerinnen und Sportler wie Dario Cologna, Hitsch und Ursina Haller, Nevin Galmarini oder eben Thomas Tumler hervorgebracht. Haben Sie noch Kontakt zu den Ehemaligen?
OKS: Ja, den pflegen wir bewusst, auch weil es unser Ziel ist, die Ehemaligen möglichst hier wieder als Trainerinnen oder Trainer anzustellen. Zudem sind Mario Denoth, Nevin Galmarini und Aita Stupan im Vorstand des Fördervereins. Es ist sehr sympathisch, wenn sie dem Sport in der Region etwas zurückgeben. So fungieren sie auch als Vorbilder für die Jugendlichen an der Sportklasse, denn es ist wichtig, dass wir die Jungen selbst ausbilden, mit unseren eigenen Leuten. 

Würden die Ehemaligen wieder den gleichen Weg gehen?
OKS: Ich glaube, ich habe niemanden, der dies nicht wieder machen würde, ja. Deshalb würde ich auch alle Ehemaligen hier anstellen. Ich weiss, wie sie gearbeitet haben und dass diese Zeit auch gut für die Persönlichkeitsbildung war. Sie waren bereit, zweimal am Tag zu trainieren und daneben auch in der Schule oder in der Lehre noch gute Leistungen zu zeigen. Sie haben gelernt zu «beissen».

Wie wichtig ist denn der Trainier in diesem ganzen Konzept?
Kurt Baumgartner: Der Trainer ist wichtig, aber die Gruppe ist auch wichtig. Es ist wie in der Privatwirtschaft. Dort bekommt der Chef die Mitarbeitenden, die er verdient und beim Trainer ist es genauso. Ob als Trainer oder als Chef ist es wichtig, dass man die Leute wertschätzt, ihnen mit Vertrauen begegnet und sie unterstützt in ihrem Tun.
Otti kann nicht für die Athleten und Athletinnen trainieren, aber er kann ein Team formieren, das sich gegenseitig motiviert und pusht, aber auch stützt und trägt.

OKS: Vor allem aber braucht es Strukturen, die unabhängig vom Trainer sind, sodass das Ganze auch weiterläuft, wenn der Trainer mal nicht mehr da ist.
Das sieht bei uns relativ gut aus, jedenfalls haben unsere Strukturen schon den einen oder anderen Sturm überstanden.

Kurt Baumgartner, hätten Sie lieber, dass Ihre Kinder Spitzensportler oder Hoteliers werden?
Sie sollen das machen, was ihnen Freude und Erfüllung gibt im Leben. Wenn sie aber etwas machen, dann sollten sie das richtig machen, wenn sie A sagen, sollten sie auch B sagen, dies gilt für den Sport wie auch für das Berufsleben, Stehvermögen braucht es nicht nur im Sport. Und weil man Spitzensport nicht ein Leben lang macht, könnten sie ja auch erst versuchen, Spitzensportler zu werden, danach können sie immer noch Hoteliers werden. Interview: Jürg Wirth

*Odd Kare Sivertsen ist langjähriger Langlauftrainer am Hochalpinen Institut Ftan und betreut die Sportklasse.
*Kurt Baumgartner ist Hotelier in Scuol und neu fürs Sponsoring des Skisportfördervereins mit zuständig.
Dieser Artikel ist erstmals im Unterengadiner Gästemagazin «Allegra» erschienen.