Wussten Sie, dass es weltweit etwa 30 000 verschiedene Orchideenarten gibt, die hauptsächlich in den Tropen vorkommen? Die Orchideen, die wir im Supermarkt oder in Gärtnereien kaufen können, stammen von diesen tropischen Arten ab. Aber auch in der Schweiz gibt es Orchideen, obwohl sie hier viel seltener sind. Etwa 75 Arten sind bekannt, die meisten davon im Mittelland, in den Voralpen und im Jura. Einige wenige wachsen sogar bis in höchste Lagen hinauf. 

Jetzt gibt es eine neue Orchideenart im Engadin. Genau genommen ist sie gar nicht neu – sie wurde bisher einfach als Spezialform einer anderen Art betrachtet. Die Rede ist von der «Gymnadenia densiflora», auch Dichtblühende Handwurz genannt. Bisher wurde sie als Unterart der weit verbreiteten «Gymnadenia conopsea», der Langspornigen Handwurz angesehen.

Während die Langspornige Handwurz fast überall in der Schweiz vorkommt, gab es von der Dichtblühen­den Handwurz in den letzten zehn Jahren nur wenige Fundmeldungen, etwa aus dem Jura, der Zentralschweiz, dem Wallis und eben auch aus dem Engadin. Sie ist wahrscheinlich weiter verbreitet, wurde aber oft der Langsporni­gen Handwurz pauschal zugeordnet. Jetzt, da sie als eigene Art anerkannt ist, sind in den nächsten Jahren wohl mehr Fundmeldungen zu erwarten.

Unterscheidung der beiden Arten
Die Einzelblüten beider Arten sehen in Form, Farbe und Grösse zum Verwechseln ähnlich aus. Zudem haben die Blüten beider Arten den für die Langspornige Handwurz charakteris­tischen langen Sporn – daher der Name. Dies erschwert natürlich die Unterscheidung. Und trotzdem gibt es einige deutliche Unterschiede. 

Die Dichtblühende Handwurz ist zwei- bis dreimal grösser als eine typische Langsponige Handwurz, sie hat mehr Blüten pro Blütenähre, die Blüten stehen sehr eng aneinander, oft berühren sie sich sogar, während der Blütenstand der Langspornigen Handwurz recht locker aufgebaut ist. Ein weiterer unterschied besteht darin, dass sie später blüht, nämlich dann, wenn die Langspornige Handwurz schon verblüht ist. Und nicht zuletzt hat sie einen starken Duft, der an Vanille und Gewürznelken erinnert.

Genetische Untersuchungen haben bestätigt, dass diese Pflanzen trotz vieler optischer Ähnlichkeiten unterschiedliche Arten sind. Aus diesem Grunde wurde die Dichtblühende Handwurz seit Anfang 2024 in der Schweiz als eigene Art anerkannt.

Im Engadin wurde sie bisher in der Umgebung von Zuoz und S-Chanf gefunden. Dort gibt es Exemplare, die über 80 Zentimeter hoch werden – mehr als doppelt so hoch wie die weit verbreitete Langspornige Handwurz. Ihre Blütenstände können aus 100 oder mehr Einzelblüten aufgebaut sein, sie blühen ab Mitte Juli, wenn die meisten anderen Handwurzen schon verblüht sind. Hier ist allerdings anzumerken, dass die Langspornige Handwurz auch eine spätblühende Variante hat; nur die Blütezeit allein ist also kein zuverlässiges Bestimmungsmerkmal.

Die Dichtblühende Handwurz bereichert die Flora des Engadins. Ihre Geschichte zeigt, dass es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt – auch vor unserer Haustüre. 

Autor: Rudolf Moll

Büchertipp: Mehr Informationen über die faszinierende, Engadiner Orchideenwelt finden sich im Buch «Orchideen rund um die Bernina», von Dr. Rudolf und Nesina Moll-Casper, erschienen 2020 im Verlag Gammeter Media. Das Buch ist im Buchhandel erhältlich oder kann über den Büchershop bestellt werden