Die Klimaseniorinnen hatten 2016 beim Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) Klage eingereicht und den Schweizer Behörden unzu­reichende Massnahmen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung vorge­worfen. Im April schloss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit seinem Urteil den Fall der Klimaseniorinnen nach einem mehr als achtjährigen Gerichtsverfahren mit einem Erfolg für die Klägerinnen ab.

Frau Wydler-Wälti: Sie haben mit den Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein historisches Urteil erzielt. Wie fühlt man sich da?
Das war und ist ein wahnsinniges Glücksgefühl. Nie hätten wir mit diesem Urteil gerechnet. Wir hoffen nun sehr, dass wir mit diesem Entscheid etwas in Bewegung setzen können und der Bundesrat vorwärts macht in Sachen Klimaschutz in der Schweiz. Weiter hoffen wir auch, dass dieses Urteil Signalwirkung auf andere Länder hat und dort ebenfalls etwas passiert. Denn dieses Urteil betrifft nicht nur die Schweiz, sondern alle Länder, welche die europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben haben. 

Glauben Sie denn, dass da etwas passiert?
Wir sind da sehr hoffnungsvoll, ja. Schliesslich musste die Schweiz schon ab und zu ihre Gesetze anpassen, und dies dürfte jetzt wieder der Fall sein. Wir sind davon überzeugt, dass Bundesrat und Parlament bereits diesbezügliche Pläne in der Schublade haben und genau wissen, wie und in welchen Sparten sie das angehen könnten. 

Wie waren die Reaktionen?
Es gab sehr viele freudige Reaktionen, vor allem auch aus dem Ausland. Die Nicht-Regierungs-Organisationen sind froh, dass die Klimabewegung durch dieses Urteil nun Aufwind erhält. 

Gab es auch Drohungen von wegen fremde Richterinnen und Richtern oder dergleichen?
Das mit den fremden Richterinnen und Richtern stimmt so nicht, denn ein Richter ist auch aus der Schweiz. Und Drohungen gab es eigentlich keine. Einzelne Hassmails trafen bei uns ein, es gab auch einzelne Politikerinnen und Politiker, die über uns schlecht geschrieben haben. Alles in allem freuten wir uns aber, dass es genügend Leute gibt, die Freude daran haben, dass wir älteren Frauen so viel erreicht haben. Selbst aus Australien, Kanada und Mexiko erhielten wir Reaktionen und auch Einladungen für Zoom-Vorträge dort. 

Wie geht das nun weiter?
Gut ist, dass dieses Urteil international Wellen geschlagen hat, so ist das Klima-Thema wieder stärker in den Medien. Durch die Kriege geriet das etwas in den Hintergrund, durch Naturereignisse wie den Felssturz im Val Roseg ist es aber nun auch so wieder präsenter und gerade für den Tourismus ist es sehr wichtig oder fast schon existenziell. 

Früher sassen die Senioren auf dem Bänkchen, rauchten Pfeife oder strickten, weshalb sind Sie Klimaseniorin geworden?
Wir wollten genau dieses Bild durchbrechen von der Oma, die «nur» ihre Kinder hütet. Selbstverständlich kann ich auch backen, stricken und kochen und ich hüte auch meine Enkelkinder, aber ich möchte noch mehr. 

Waren Sie denn früher auch schon politisch aktiv?
Eher weniger. Ich habe erst Kindergärtnerin gelernt und dann im Zeitraum von zehn Jahren vier Kinder zur Welt gebracht und diese mit meinem Mann grossgezogen. In NGOs hab ich mich aber schon damals engagiert und ging auch ab und an zu einer Demo oder nahm an einem Friedensmarsch teil. Parteipolitisch war ich aber nie aktiv, hingegen setzte ich mich für Feminismus und für eine bessere Erde ein, denn schliesslich sollen Frauen ihre Kinder auf einem gesunden Planeten zur Welt bringen. 

Was halten Sie den bösen Zungen entgegen, die sagen, auch dank den Senioren sei die Lage jetzt so, wie sie ist?
Eigentlich, dass sie recht haben und wir uns dessen bewusst sind, und uns auch genau deshalb dermassen für das Klima einsetzen. Ich zum Beispiel hatte noch nie ein Auto und geflogen bin ich auch praktisch nie. Aber ja, grundsätzlich haben die Jungen, die das sagen, schon recht. 

Apropos Junge: Von der Klimajugend hört man nicht mehr so viel, sind Seniorinnen ausdauernder?
Es scheint fast ein wenig so, denn als die Klimastreiks 2019 begannen, da waren wir gemeinsam an Demos. Wir haben damals gespürt, dass es bei den Jungen durchaus Eindruck macht, wenn die Älteren auch dabei sind. Mittlerweile scheinen sie aber etwas resigniert zu haben. Schliesslich ist das Ganze ein Riesenaufwand und gebracht hat es bislang nicht viel. Aber wir hoffen, dass sich die Jungen wieder aufraffen können und etwas machen. Allerdings etwas anderes, als sich auf die Strasse zu kleben. 

Und wie sieht es bei Ihnen mit «Nachwuchs» aus?
Vorläufig geht es uns noch gut und wir sind nun weit über 3000 Frauen im Pensionsalter. Es könnten also andere nachrücken. Doch wir hoffen auch, dass wir nicht noch 50 Jahre dranbleiben müssen, sondern dass man vorher etwas spürt, auch wenn wir das wahrscheinlich nicht mehr erleben werden. Wenn aber in 40, 50 Jahren die Erderwärmung zurückgeht, wäre das ein gutes Resultat. Denn wir tun es in erster Linie für die Jungen, die haben es sonst sehr schwierig. 

Sie sind oft in Sent, wie reisen Sie an?
Immer mit dem Zug, denn ich besitze ein Generalabonnement, aber kein Auto. 

Was schätzen Sie an der Gegend?
Wir leben in einem mit vielfältigen Naturschönheiten gesegneten Land. Hier im Unterengadin hört man den Kuckuck im Frühling und die Grillen im Sommer, die sich in den Blumenwiesen zusammen mit den vielen Schmetterlingen wohlfühlen. Auch die Farben und Düfte der Blumen machen mich glücklich und bringen mich der Verbundenheit mit der Natur jeweils ein Stück näher. Hier fühle ich mich wohl und kann meine Batterien wieder so richtig aufladen. Ich geniesse vor allem auch das warme Sommerklima in einmaliger Kombination mit der alpinen Umgebung. 

Wo bräuchte es auch im Engadin Klimaseniorinnen?
Grundsätzlich haben wir einige Frauen aus dem Engadin, die Mitglieder sind, im Vorstand ist aber niemand von ihnen. 

Gibt es denn hier noch eine heile Welt?
Grundsätzlich eher ja. Sicher auch, weil die Gegend nicht stark industrialisiert ist, zudem gibt es im Unter­engadin keinen Supertourismus wie im Oberengadin. Trotzdem wollte ich hier schon lange einen Vortrag über die Klimaseniorinnen halten – und weshalb es sie braucht. Nur habe ich bis jetzt noch nirgends einen Raum gefunden, da spüre ich durchaus etwas Ablehnung. Doch würde es mich sehr freuen, hier im Engadin die Menschen informieren zu können.

Zur Person:
Rosmarie Wydler-Wälti ist verheiratet, Mutter von vier Kindern und mittlerweile auch mehrfache Grossmutter. Seit der Gründung 2016 engagiert sie sich bei den Klimaseniorinnen, wo sie als Co-Präsidentin amtet. Sie lebt autofrei und setzt sich schon lange für die Umwelt und für Menschenrechte ein.

Interview: Jürg Wirth
Dieser Artikel ist erstmals im Unterengadiner Gästemagazin «Allegra» erschienen.