Engadiner Post: Nicole Kündig, am 21. September dieses Jahres wäre Ihr Vater Vico Torriani 100-jährig geworden. An diesem Tag erscheint nun die erste Biografie, wieso hat es so lange gedauert?
Nicole Kündig: Er wollte keine Biografie schreiben und hat immer gesagt: «Das interessiert die Leute doch nicht.» Er wollte das Leben mit seinem Publikum teilen, solange er noch auf der Bühne stand. Als Geschwister sind auch wir nicht auf die Idee gekommen, das Leben unseres Vaters in einer Biografie aufzuarbeiten. Durch die Übergabe eines grossen Teils des musikalischen Nachlasses ans Kulturarchiv Oberengadin ist das Thema wieder aktuell geworden. Wir brauchten eine Zeitachse, die wichtigsten Stationen unseres Vaters. Dora Lardelli als Leiterin des Kulturarchivs war es schliesslich, die uns den Anstoss zu der Biografie gab ...

... die jetzt einen sehr umfassenden Einblick in das Leben ihres Vaters gewährt?
Ja. Persönlich wollte ich das nicht so gross aufziehen. Meine Idee war, mit einem kleinen Verlag ein kleines Buch zu machen. Dann aber sagte der Geschäftscoach des Familienunternehmens meines Mannes, dass wir das viel grösser machen müssen. Ich bin auf den Verlag NZZ Libro gestossen und die Geschichte kam ins Rollen.

Sie haben sich zusammen mit der Autorin der Biografie, Barbara Tänzler, auf Spurensuche begeben. Was haben Sie über Ihren Vater erfahren, was Sie noch nicht gewusst haben?
Zum Beispiel, dass man Kinder früher nicht auf der Gemeinde anmelden musste. Ich weiss, dass er in St. Moritz gelebt hat, aber es gibt auf der Gemeinde keinen Eintrag in einem Register, wo man das nachprüfen kann. Ich wusste auch nicht, dass er so viele Nebenjobs hatte, vom Balljungen über Golf-Caddy-Fahrer, Reitlehrer, Skilehrer, Liftboy im Hotel Badrutt’s Palace bis zum Ausläufer bei der damaligen Buchdruckerei Walter Gammeter. Und sein Bruder hat mir bei der Recherche auch noch eine Anekdote erzählt: Mein Vater trat im Juli 1937 mit der Schweizer Jodlerin Grittli Wenger im Kolosseum in London als «The Wonderchild Jodlers from St. Moritz» auf.

Vor drei Jahren berichteten Boulevardmedien darüber, dass Ihr Vater als Kind weggegeben worden ist. Sie haben darüber nichts gewusst?
Er hat nie über eine Fremdplatzierung gesprochen. Er hat auch nicht erzählt, dass er die Sekundarschule im Kanton Aargau gemacht hat. Er erzählte nur von seiner Schulzeit in St. Moritz. Wir haben ihn aber auch nie gross danach gefragt. Wir wussten, dass er sehr verbunden war mit dem Engadin und haben dieses ja auch immer wieder besucht.
All die Bekannten, die wir hier haben und teils seit drei Generationen miteinander befreundet sind, haben auch nie erzählt, dass er mal weg war. Als die Boulevardmedien das aufgegriffen haben, war das für mich sehr überraschend. Ich und meine ganze Familie haben uns am Ausdruck Verdingkind sehr gestört. In einem Gespräch mit dem Gemeindeschreiber von Oberrüti hat sich die Geschichte stark relativiert. Mein Vater und seine Schwester wurden fremdplatziert, nicht verdingt. Und es ist ihnen dort nicht schlecht ergangen.

Auch über eine offenbar schwere Krankheit, die 1998 zu seinem Tod geführt haben soll, hat er nie gesprochen. Warum hat er das verdrängt?
Er war ein fröhlicher Mensch. Und die Krankheit, über die er nicht sprechen wollte, haben wir selber gar nie festgestellt. Das war lediglich ein Konstrukt eines Mediums. Er hatte drei Jahre vor seinem Tod eine Lungenembolie, das hat er auch öffentlich gesagt. Von dieser hat er sich gut erholt, wahrscheinlich auch dank seinem Lungenvolumen. Die Todesursache war Herzversagen im Schlaf. Er hat viel abgenommen, das haben die Leute auch beobachtet. Nach einer Embolie ist man nicht mehr topfit. Aber man muss auch sagen, dass er bis zum Alter von 75 Jahren auf der Bühne stand.

Wie haben Sie Ihren Vater erlebt?
Er war ein Naturmensch und hatte eine unglaublich starke Beziehung zu den Bergen im Engadin. Die Berge haben ihm die Kraft gegeben, immer weiterzumachen. Und er war eine Frohnatur. Er hatte immer irgendein Projekt am Laufen, an dem er hart gearbeitet hat. Er war auch sehr akribisch, eigentlich ein Bünzli, ein sehr korrekter Mensch, der alles immer bis ins Detail planen wollte. Das sagen auch seine Künstlerfreunde. Er hat immer gesagt, er wolle ein Grandseigneur sein. Seine Vorbilder waren die Chansonniers Maurice Chevalier und Tino Rossi. Die Auftritte von Maurice Chevalier hat er sich immer wieder angeschaut. Diese Grazilität und die Eleganz, das hat ihn beeindruckt, das wollte er auch können.

Vico Torriani feierte in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren grosse Erfolge. Wie stark hat das Ihre Kindheit, respektive Ihre Jugend geprägt?
Ich bin 1953 geboren und habe die Anfänge seines Erfolges nicht bewusst wahrgenommen. Wir haben damals als Familie in Deutschland in Starnberg gelebt und meine Mutter war mit mir zu Hause. Als ich fünf Jahre alt wurde, hat sie das Management übernommen und ist viel mit ihm gereist. Wir sind als Familie zu unseren Grosseltern nach Basel gezogen. Er war ein Star und fand nirgends seine Ruhe – ausser auf den Wanderwegen im Engadin ...

... hat sie das auch gestört?
Nein, es war für uns Alltag, dass sich Menschentrauben um ihn gebildet haben, sobald er sich in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Auch meine Mutter stand damals stark im Fokus, weil sich Frauen wegen meinem Vater in unser Privatleben eingemischt haben.

Das muss anstrengend gewesen sein?
Ja. Aber er hat diese stressigen Zeiten dadurch kompensiert, dass wir im Januar, Februar und März im Engadin waren. Wir Kinder hatten einen Privatlehrer und waren in einer kleinen Wohnung zusammen mit den Eltern und den Grosseltern. Da hatten wir auch Zeit und Musse mit ihm. Er hat nichts anderes gemacht und war einfach für uns da.

Den Rest des Jahres haben Sie ihn vermutlich selten gesehen?
Das ist so. Obwohl, in den Ferien sind wir mit ihm auf Tournee gegangen. Wir waren in Ungarn, in Russland und in vielen anderen Ländern. Das war spannend für uns. Andere Kinder hatten diese Möglichkeit nicht. Wir wohnten dann jeweils bei Einheimischen, zum Beispiel auf einem Bauernhof in St. Petersburg. Das war eine sehr spannende Zeit und wir haben als Kinder gelernt, ohne Vorurteile auf Leute zuzugehen.

Haben ihn die grossen Erfolge verändert?
Nein. Er war immer ein sehr engagierter Vater. Er hat viel Sport mit uns getrieben. Er nahm uns mit, wo er konnte. Darum mussten wir auch schon früh lernen, in einer grossen Gesellschaft still sitzen zu können oder als 14-Jährige auf einen Burda-Ball zu gehen. Auch als Mensch haben ihn die Erfolge nicht verändert. Er war ein sehr einfacher, selbstzufriedener und fröhlicher Mensch. Einer auch, der die Einsamkeit sehr geschätzt hat. Deshalb hat er später in Agno sein Haus auf einem Hügel gebaut, damit die Leute nicht zum Fenster reinschauen konnten. Das war sein Rückzugsrevier und meine Mutter hat sehr stark darauf geachtet, dass unsere Privatsphäre gewahrt blieb und wir als Familie Zeit hatten miteinander. Ich denke, wir hatten nicht weniger von unserem Vater als andere Kinder.

Wie sind Sie damit umgegangen, dass Sie die Tochter des berühmten Vico Torriani sind?
Mühsam in Erinnerung habe ich die ganzen Homestorys, wenn wir uns zum Beispiel bereits im Oktober anziehen mussten wie im Winter und für den Fotografen unter dem Weihnachtsbaum sassen. Das war nicht immer nur lustig. Auch meine Kinder mussten das noch mitmachen. Es hat sie gestört, aber sie machten es dem Grossvater zuliebe. Sie hatten eine starke Beziehung zu ihm.

Werden Sie heute noch oft auf Ihren Vater angesprochen?
Immer wieder. Vor allem von älteren Menschen. Aber während der Recherche staunte ich auch, wie viele Junge ihn zwar nicht vom Namen her kennen. Aber die Lieder sind ihnen bekannt, weil ihre Grosmutter diese immer gehört hat. Berührt hat mich, dass ausnahmslos alle Leute, mit denen ich gesprochen habe, erwähnt haben, dass mein Vater ein korrekter und eleganter Mann war. Er hat sich nie schlecht verhalten und der Erfolg ist ihm nicht in den Kopf gestiegen. Er selber sagte zu uns: Ich war mal ganz unten und jetzt habe ich den Berggipfel erklommen, aber es geht auch schnell, bis man wieder unten landet. Man darf einfach nicht übermütig werden. Das hat uns Kindern als Motto gedient, um die Berg- und Talfahrten des Lebens zu meistern.

Ihr Vater wurde auch schon als «berühmtester Sohn von St. Moritz» bezeichnet. Wie stark haben ihn diese Jahre im Weltkurort geprägt?
Ich denke, er hatte viel von der Weltoffenheit, die St. Moritz auch einmal hatte. Zudem war sein Vater Reit- und Skilehrer mit vielen Kontakten zu internationalen Gästen. Auch das hat ihn stark geprägt. Und die Natur hat ihn magisch angezogen. Er fühlte sich hier im Engadin so zu Hause, wie sonst nirgendwo. Das kann ich absolut nachvollziehen. Dass er später ins Tessin gezogen ist, hat nur mit der Wärme zu tun, die er mit zunehmendem Alter auch suchte und mit dem Flughafen in Agno, der damals noch die Anbindung an die Welt garantierte. Aber ich bin überzeugt: Am liebsten wäre er im Engadin geblieben.

Am 19. September gibt es im Hotel Reine Victoria in St. Moritz einen Galaabend zu Ehren ihres Vaters. Warum St. Moritz, warum das Reine Victoria?
Hotel Victoria war ja seine erste eigene Fernsehshow. Die erste Kochsendung der Welt am Deutschen Fernsehen hiess Hotel Victoria. In Liedform gab er die Anleitung für internationale Gerichte, während er sie zubereitete. 2016 hat Felix Benesch ein Musical im Hotel Reine Victoria in St. Moritz aufgeführt. Die Handlung war frei erfunden, aber er hat Melodien von Hotel Victoria übernommen.
Das Musical Orchester und die Sänger werden meinem Vater eine Hommage bieten. Felix Benesch ist wieder der Regisseur. Die Familie Schlatter war so freundlich, mir den schönen Saal zu überlassen. Darum hat es sich angeboten, das in St. Moritz zu machen.

Corona aber hat Ihnen einen kleinen Strich durch die Rechnung gemacht?
Ja, ich wollte St. Moritz und dem ganzen Engadin mit einer öffentlichen Aufführung ein Geschenk im Namen meines Vaters machen. Weil er hier so gerne war und so viele gute Freunde und Bekannte hatte. Mit grossem Bedauern aber mussten wir im Mai aufgrund der Corona-Pandemie entscheiden, den Galaabend als geschlossene Veranstaltung durchzuführen. Die gute Nachricht: Der Abend wird als Livestream für alle Interessierten mitzuverfolgen sein.

Autor: Reto Stifel

Foto: Giancarlo Cattaneo/www.fotoswiss.com