Nein, Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Dieser ungehobelte Geselle namens November machte es lange nicht einfach, ihn zu mögen. Er war mit seiner launischen, oft widersprüchlichen, miesepetrigen Art, umweht von einer gehörigen Prise Trauer, der Typ, den man an einem vergnüglichen Abend keinesfalls neben sich sitzen haben wollte.
Doch das hat sich in den letzten Jahren geändert. Das mag mit zunehmendem Alter betrachtet damit zusammenhängen, dass viele Dinge gelassener gesehen werden. Und wer, wenn nicht der November, würde sich für diese entspannte Selbstreflexion besser eignen? Die Sturm- und Drangmonate des Sommers haben sich längst verabschiedet. Die alles erschlagende Farbenpracht des Herbst liegt auf dem Sterbebett und der Frost des kommenden Winters ist bis jetzt eher saft- und kraftlos.
Die kräftigen Strahlen der Novembersonne, das warme Licht, die windstillen Tage und die kühle, reine Luft verführen dazu, sich gegen die Sonne ausgerichtet hinzusetzen und Vitamin D aufzusaugen wie der Schwamm das Wasser. Und für eine gefühlte Ewigkeit dominiert nur das Jetzt, die Dankbarkeit für diesen Moment.
Diese Liebeserklärung an den sogenannten Trauermonat, der schwer an der Last der kirchlichen Gedenktage wie Allerheiligen, Allerseelen oder Totentag trägt, könnte auch einen viel profaneren Hintergrund haben: Die Fülle von wolken- und nebellosen Sonnentagen, die er uns auch in diesem Jahr wieder geschenkt hat. Weit weg vom Novemberblues, wie ihn Sänger besingen, Schriftsteller beschreiben und Lyriker rezitieren. Auch die Dichter mögen nicht zurückstehen: «Was man besass, weiss man, wenn man’s verlor. Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen. Es regnet, Freunde, und der Rest ist Schweigen. Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor. Und der November trägt den Trauerflor», schrieb Erich Kästner. Für ihn war der November wohl auch nicht Liebe auf den zweiten Blick. Für mich schon. Und darum traure ich einen kurzen Moment im Wissen, dass sich mein lieb gewordener Geselle in drei Tagen wieder verabschiedet. Für elf lange Monate.

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Autor: Reto Stifel

Foto: Reto Stifel