Was leitet Engadiner Jugendliche bei der Berufswahl an? Macht es ihnen etwas aus, das Tal hierfür zu verlassen? Können sie sich vorstellen, dereinst in ihre Heimat zurückzukehren und hier eine Familie zu gründen? Über solche Fragen hat die Engadiner Post mit vier jungen Erwachsenen aus dem Oberengadin im Alter von 18 bis 27 Jahren gesprochen. Die Antworten waren so unterschiedlich wie es die Lebensentwürfe sind.

Die jüngste Teilnehmerin am samstäglichen Round-Table-Gespräch im St. Moritzer Forum Paracelsus wird bald neunzehn. Luana Costa hat eine Lehre im Detailhandel bei Boom Sport in St. Moritz absolviert. «Ich wusste, dass ich einen Beruf lernen will, in dem ich meine Sprachkenntnisse einsetzen kann. Entweder eine KV-Lehre im Tourismus oder eine Lehre im Detailhandel». Weil Luana aber nicht lange sitzen bleiben kann und auch nicht scharf darauf ist, Stunden vor dem PC zu verbringen, entschied sie sich für den Detailhandel.

«Entweder eine Lehre im Tourismus oder im Detailhandel»

Und sie hat sich auf Lehrstellensuche in St. Moritz, aber auch ausserhalb des Tals beworben. Im Levi’s Shop im Outlet von Landquart ist sie fündig geworden. Nach einer Schnupperlehre von zwei Wochen im Outlet, bekam sie aber eine positive Antwort vom St. Moritzer Sportgeschäft. Wofür sollte sie sich entscheiden? Mode und Kleidung in Landquart? Sport in St. Moritz? Ihre Wahl fiel schliesslich zugunsten des Sportgeschäfts aus, obwohl die Fashion-Branche ihr näher steht. «Ich habe mich für St. Moritz entschieden, weil meine Eltern hier leben, mein Zuhause hier ist und ich die Berufsschule in Samedan besuchen konnte», begründet sie ihre Wahl.

Für Gian Reto Clalüna aus Sils war der Ausbildungsweg aufgezeichnet. «Ich wusste, dass ich dereinst den elterlichen Landwirtschaftsbetrieb übernehmen würde, ich bin der einzige Sohn neben meinen Schwestern. Die Frage war nur, wie soll ich das am Besten einleiten». Da ein Landwirt viel mit Maschinen zu tun hat, entschied sich Gian Reto für die Lehre als Landmaschinenmechaniker. Weil er im Oberengadin keine Möglichkeit hatte, diesen Beruf zu erlernen, verliess er das Tal in Richtung Domat Ems, wo er eine Lehrstelle bei einem Bekannten seines Vaters fand. Nach dem Lehrabschluss folgten vier Jahre am Plantahof in Landquart für die Ausbildung zum Landwirt. Dann kamen zwei praktische Jahre in verschiedenen Betrieben in Bergün und Scuol. Doch zurück ins Engadin wollte der junge Berufsmann noch nicht. Er wusste ja, dass er bald heimkommen, aber nicht mehr so schnell wieder fortkommen würde. «Wenn man Tiere hält, kann man nicht einfach weg. Zwischendurch vielleicht mal eine Woche Ferien machen. Mehr nicht». Also verschlug es ihn für ein Jahr nach Kanada, wo er auf einer grossen Farm aushalf und alle seine Kenntnisse gefragt waren. «Es war schön, was anderes zu sehen als die kleine Schweiz. Ich habe gute Erinnerungen an Kanada». Vielleicht auch, weil er dort seine jetzige Freundin kennengelernt hat.

«Wenn man Tiere hält, kann man nicht einfach weg»

Wegen ihr kam der junge Berufsmann nach seinem Kanada-Aufenthalt nicht sofort ins Engadin zurück, sondern verbrachte noch zwei Jahre in Österreich, wo seine Freundin studierte. «Zuhause brauchte man mich noch nicht. Diesen Sommer bin ich aber zurück nach Sils gekommen und wohne wieder fix hier, erstmals seit zwölf Jahren». Innerhalb der nächsten zwei Jahre wird Gian Reto den elterlichen Betrieb übernehmen. «Vater und Mutter werden nicht jünger». Und hier in Sils fühlt er sich zuhause, hat alles was ihm lieb ist, schätzt Natur und Landschaft sowie die vielen Sportmöglichkeiten.

Jorge Queiroz ist mit zehn Jahren mit seinen Eltern ins Engadin übersiedelt. «Von klein auf hat mich alles, was mit Elektronik, Mechanik oder Informatik zu tun hat, angezogen». Nach einem Gespräch mit dem Berufsberater entschied sich Jorge für eine Lehre als Elektroinstallateur bei der Firma Triulzi in St. Moritz. Diese Wahl liess ihm später ja auch Weiterbildungsmöglichkeiten offen. Nach der Lehre folgten einige Monate Ferien. Doch bei seiner Rückkehr ins Engadin gab es nicht mehr so viel Arbeit bei seinem angestammten Betrieb. «Aber zur Konkurrenz wollte ich nicht wechseln und entschied deshalb, vorübergehend etwas anderes zu machen, was Neues zu lernen». Seit zwei Jahren arbeitet Jorge in der Bad Bäckerei in St. Moritz, wo er schon früher mal, im Alter von dreizehn Jahren, schnuppern konnte. Dort gefällt es ihm, auch mit den unregelmässigen Arbeitszeiten komme er einigermassen klar. «Früh aufzustehen bereitet mir keine Probleme, aber früh ins Bett zu gehen schon». Jorge ist diesbezüglich ganz der mediterrane Typ.

Die vierte im Bund ist Marina Meuli aus dem Fextal. «Ich wusste schon immer, dass ich was in Richtung Gesundheit machen und entweder in einer Apotheke oder in einer Arztpraxis arbeiten wollte», erzählt sie. Aber von Anfang an war Marina klar, dass sie hierfür die Berufsschule in Chur würde absolvieren müssen.

«Entweder in einer Apotheke oder Arztpraxis arbeiten»

Das war speziell zu Beginn ihrer Lehre als Pharma-Assistentin schwierig, da sie zweimal in der Woche nach Chur reisen musste. «Vor allem im Winter war das nicht so lässig. Von Fex aus war das ein langer Weg bis nach Chur und zurück. Anfänglich kam mir das mühsam vor, nachher ging es besser».
Bereits im Alter von fünfzehn Jahren das Elternhaus zu verlassen und Sils gegen Chur zu tauschen war für Gian Reto kein Schlecken. Auch wenn er an den Wochenenden nach Hause kam – die Schmutzwäsche im Gepäck – und Eltern und Geschwister wieder sah. «Man lässt ja schliesslich auch seinen angestammten Freundeskreis zurück». Doch das Leben im Lehrlingshaus in Chur hatte auch seine Vorzüge. Gian Reto lernte neue Leute kennen, Gleichaltrige und Gleichgesinnte, die aus ganz Graubünden stammten oder von anderswo in der Schweiz angereist waren, um bei der Ems Chemie eine spezielle Berufslehre zu machen. «Ich habe Freundschaften geschlossen, die jetzt noch bestehen», sagt er. «Und ich war auch froh, weg zu sein, fühlte mich erwachsen. Niemand sagte dir, wann du ins Bett musst». Gleichzeitig tat sich Gian Reto als Lehrling schwer damit, am Sonntagabend jeweils den Bus nach St. Moritz und dann den Zug in Richtung Chur zu nehmen.

«Niemand sagte dir, wann du ins Bett musst»

Vor allem im Winter das sonnige Engadin gegen das neblige Chur auszutauschen und noch nicht so viele Leute zu kennen, habe schon weh getan, erinnert er sich.

«Chur und Umgebung werden zu Unrecht oft etwas schlecht gemacht», hält Marina Meuli dagegen. Das sähe sie gar nicht so. Der Winter in der Region von Chur sei kürzer, man lebe zentraler, auch näher zu Zürich mit seinem Flughafen und weiteren Schweizer Städten. Marina liebt es, neue Leute kennenzulernen und ihren Freundeskreis erweitern zu können. Sie schätzt auch die Anonymität, welche eine Stadt bietet. Zu Beginn ihrer Lehre hatte auch sie Mühe, sich zurechtzufinden und kam jeweils gerne ins Engadin zurück. Hauptsächlich wegen der Eltern. Doch inzwischen hat sie Freunde im Unterland, in Chur, Zürich und Bern. «Ich kann mir nicht vorstellen, bald zurückzukehren. Das Fextal ist mir viel zu kalt», bemerkt sie.

Während Gian Reto Clalüna die kommenden Jahre und Jahrzehnte in Sils verleben will und sich Marina Meuli frühestens nach der Pensionierung vorstellen kann, für längere Zeit im Fextal zu leben, hat Jorge noch keine klare Vorstellung davon, ob das Engadin wirklich seine Heimat ist. Zwar hat er sich im Engadin integriert und auch seinen Freundeskreis erweitert, der über portugiesische Bekanntschaften hinaus geht, weiss aber auch um seine ursprüngliche Kultur und fühlt sich manchmal hin- und hergerissen. «Anfänglich hatte ich schreckliches Heimweh nach Amarante».

«Anfänglich hatte ich schreckliches Heimweh nach Amarante»

Dort im Norden Portugals ist er aufgewachsen, eine Viertelstunde Fahrt von Porto entfernt. Jeden Sonntag im Sommer hat er am Atlantik verbracht. «Noch heute vermisse ich das Meer». Irgendwann werde er wohl zurück nach Portugal, mutmasst Jorge. Doch das sei nicht dringlich. Und er habe sich diesbezüglich auch noch keine präzise Gedanken gemacht.

Eine klare Vorstellung davon, wie lange sie noch im Engadin bleiben werde, hat Luana Costa. Ihre Lebensplanung hat die Neunzehnjährige schon durchgedacht. «Ich habe Portugal im Herzen und meine Mentalität ist eher schweizerisch», bemerkt sie. «Aber ich will in Portugal leben, obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin». Denn mit ihrer Ausbildung, die sie in der Schweiz erworben habe, könne sie in Portugal viel anfangen.

«Ich will in Portugal leben, obwohl ich hier aufgewachsen bin»

Dort habe sie auch ihre Familie. «Ich werde noch ein paar Jahre hier bleiben und eine Weiterbildung im Bereich Management oder Marketing machen und dann das Engadin verlassen. Die Rückkehr werde anfänglich schwierig sein, weil sie eine Schweizer Mentalität habe, aber das sei zu schaffen.

Das Thema Weiterbildung ist für alle Gesprächsteilnehmer wichtig. Gian Reto Clalüna hat ja nach zwei abgeschlossenen Lehren und Arbeitserfahrung im Ausland schon einen gut gefüllten Rucksack. Doch auch für die jüngeren Round Table-Teilnehmer steht es ausser Diskussion, dass sie sich weiterbilden werden. Innerhalb oder ausserhalb des Tals. Marina Meuli will nächstes Jahr die Berufsmatura ablegen, um dann an einer Fachhochschule ein Studium aufzunehmen. Am ehesten im Bereich Sozialarbeit oder Sozialpädagogik. Diese Weiterbildungen werden sie in eine grössere Stadt wie Zürich oder Bern bringen, also noch ein bisschen weiter weg vom Engadin. Aber damit hat Marina keine Mühe, nur schon deshalb, weil es in den Unterländer Städten weniger lang Winter ist. Und zudem hat sie ja gelernt, sich auch ausserhalb des Tals zu behaupten.

Gian Reto Clalüna hat längere Zeit im Ausland gelebt und denkt auch politisch. «Für mich geht meine Lebensplanung auf. Ich kann zurück in meine Heimat und den Familienbetrieb übernehmen. Aber für viele andere ist dies nicht so einfach, wieder zurück ins Engadin zu kommen». Das Angebot an Jobs sei anderswo in der Schweiz grösser und die Bezahlung besser. «Die Mieten im Engadin sind höher als anderswo und von einem Immobilienkauf können viele nur träumen», fügt er an. Sein Blick von aussen erlaube es ihm, sich der einmaligen Naturschönheit des Engadins bewusst zu sein. «Aber mich stört ein wenig, dass die meisten Investitionen der öffentlichen Hand dem Tourismus gelten und die Belange von Einheimischen etwas hinten anstehen.

«Von einem Immobilienkauf können viele nur träumen»

Besonders was das Angebot für die Jugend angeht. Aber die Jungen müssen selber die Initiative ergreifen und für ihre Belange kämpfen».


Interview: Marie-Claire Jur / Fotos: Daniel Zaugg