25.07.2017 Ruth Bossart 4 min
Klapptische und Plastikhocker und schon kann das Festessen am Ufer des Bosporus losgehen.

Klapptische und Plastikhocker und schon kann das Festessen am Ufer des Bosporus losgehen.

Natur ist bei Türken hoch im Kurs. Sie mögen Stadt-Parks, Waldreservate, Strände oder Seeufer – am Wochenende schwärmen  die Sippen aus, packen Grosseltern, Enkel, Schwägerinnen und Cousins in ein Auto und suchen sich ein Stückchen Natur, um dort auf einer gigantischen Matten den Sonntag zu verbringen. 
Je nach dem ob die Familie konservativ ist, gibt es sogar zwei Decken;  eine für die Frauen und die Kinder, eine für die Männer. Hoch im Kurs sind auch Hängematten. Die werden dann zwischen zwei Bäumen aufgespannt und bieten den kleineren Picknickern kuschliges Rückzugsterrain. Für die Grosseltern, die nicht mehr so komfortabel auf dem Boden sitzen können, stehen Klappstühle oder Stappelhocker im Wald oder Sand. 
Für die Verköstigung sind die Frauen zuständig. Sie schleppen dutzende Taschen, Plastiksäcke und Schüsseln aus dem Auto in die Natur und stellen ihre Schätze auf Klapptische. Zwingend mit muss nebst einer Kühltruhe auch ein Grill  und – ganz wichtig - ein mobiles Teekoch-Gerät, das mit Kohle oder Gas betrieben wird. Jedes türkische Picknick wäre unvollständig ohne ein Glas Tee. Schliesslich geht ja auch kaum ein Schweizer ohne Sackmesser, Cervelat oder Thomy-Senf in die Natur. Sowohl Fleischgrillen als auch Teekochen ist dann Männersache. Die Frauen rüsten die anderen Köstlichkeiten: Börek, Mezzes aller Art, Salate, Pommes-Chips. Natürlich kann dies auf keinen Fall von Hand verspiesen werden. Ein Besteckset pro Person ist darum unentbehrlich. Kein Wunder, dass ein türkisches Freiluftmahl darum in unmittelbarer Nähe zum fahrbaren Untersatz stattfinden muss. Keinem wäre zuzumuten, all die Utensilien irgendwohin, möglicherweise noch stundenlang, hinzupuckeln. Während die jüngeren Frauen und Männer rüsten, schnetzeln, grillen und aufgiessen, beaufsichtigen die Grossmütter die Kleinen,  ihre Hände geschickt die Stricknadeln klappernd. Die Grossväter dösen vor sich hin und freuen sich darauf, was da bald aufgetischt wird.
Um die Stimmung in Schwung zu halten, baumeln oftmals auch ein paar Bluetooth-Boxen von den Ästen und türkische Volksmusik macht den Amseln und den Melodien der Nachbar-Picknickern Konkurrenz. Denn: wer glaubt, Türken suchten die Einsamkeit für ihr Freiluftmahl sieht sich getäuscht. 
Im Belgrader Wald, einem Naherholungsgebiet vor den Toren Istanbuls räuchelt es am Wochenende alle 20 Meter, die Familien geniessen es, mit ihren zufälligen neuen Nachbarn zu tratschen, herauszufinden, ob man vielleicht nicht doch einen gemeinsamen Bekannten hat und wo die Sippe ihre Wurzeln hat, denn kaum ein Istanbuler stammt wirklich aus der heimlichen Hauptstadt. Die Einwohnerzahl hat sich innerhalb des letzten Jahrzehnts verdreifacht. Heute leben dort mehr als 15 Millionen Menschen.  
Zum Ritual gehört auch, dass man sich gegenseitig Speisen anbietet, sie ausgiebig lobt und schliesslich miteinander einen Cay, einen türkischen Tee, trinkt. Die Kinder spielen  miteinander, häufig sind Fussbälle involviert oder es wird gestaut oder gesammelt. 
Welch ein Kontrast zu einem kürzlichen Erlebnis  in den Schweizer Bergen: Meine Sippe – ja Grosseltern und andere Verwandte – wollten an einem idyllischen Bergsee die hochgeschleppten Cervelats über den Flammen schwärzen. Ich blinzelte ungläubig, als ich  ein laminiertes A4-Papier an einem Feuerstellengrill baumeln sah:  Reserviert für Familie Anliker, 6 Personen, 12.30 Uhr. Obwohl es schon fast ein Uhr war, war Familie Anliker noch nicht eingetroffen. 
Wir entschieden uns darum, trotz Reservation, doch schon mal die Holzstücke anzuzünden.  Familie Anlikers Würste haben auf jeden Fall auch Platz. Zudem werden die sich sicher freuen, wenn sie hungrig sofort losbräteln können – dachten wir. 
Familie Anliker kam, als die Glut schön weiss war, schaute säuerlich, grüsste knapp, setzte sich möglichst weit entfernt in die Wiese und kam nur schnell zum Bratwurstdrehen in unsere Nähe.
Gerne hätten wir mit ihnen nicht nur das Feuer und den Grillrost geteilt sondern die Freude über die wunderbare Aussicht und die ideale Wurstgrillglut. 

Ruth Bossart

Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.