30.05.2017 Riet und Romana Ganzoni 3 min

Kulturelle Aneignung (cultural appropriation) ist ein Begriff aus der Critical Whiteness- Bewegung, die in den Vereinigten Staaten ihren Anfang nahm mit dem Ziel, Macht und Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe kritisch zu überdenken. Der Ruf: Check your Privileg! schallt unterdessen über viele Felder, was auch seltsame Blüten treibt. New York. Kürzlich versammeln sich anlässlich einer Vernissage Menschen vor einem Bild, um andere daran zu hindern, es zu betrachten. Das Gemälde zeigt einen gelynchten Jungen. Die Künstlerin hat sich von einer (ikonischen) Fotografie inspirieren lassen. Das Problem: Der Junge war schwarz, die Künstlerin ist weiss. Damit hat sie in den Augen der Aktivisten kein Recht, dieses Bild zu malen und auszustellen. Ein rassistischer Akt. Zwei Künstlerinnen gehen soweit, die Zerstörung des Werkes zu fordern. Bielefeld. Die Punkband «Feine Sahne Fischfilet» tritt auf, der Drummer zieht auf der Bühne sein T-Shirt aus, worauf die Veranstaltung abgebrochen wird. Das Entblössen des männlichen Oberkörpers sei eine patriarchale Gewalthandlung und verstosse gegen die Hausregeln. Irgendwo in Deutschland. Könnte auch in der Schweiz sein. Ein Autor beschreibt auf www.freitag.de eine links-alternative Party. Die Veranstalter teilen per Anschlag mit, weisse Leutchen mit Dreadlocks (Rastas) seien nicht willkommen. Aus den bekannten Gründen. Klar, ich habe mich auch schon gefragt, wie sich ein Maori fühlen muss, wenn er auf dem Oberarm eines Typen aus Bümpliz, Barcelona oder Berlin traditionelle Muster seiner Kultur entdeckt, sogenannte Tribal Tatoos. Wenn er gut gelaunt ist, sagt er sich vielleicht einfach: Zwingt mich nicht, euer Tatoo zu beklatschen. Tribal-Tatoo-Gegner würden in dieser spezifischen kulturellen Aneignung des Typen aus Bümpliz, Barcelona oder Berlin einen Diebstahl sehen, denn die Kultur, aus der das Muster stammt, ist eine Minderheit, sozial, politisch, wirtschaftlich und militärisch benachteiligt, die unterdrückte Kultur wird nach dieser Logik durch Unterdrücker bzw. Mittäter aus dem Kontext gerissen und verkauft. Aggressiv. Kann ich verstehen. Andere Stimmen betrachten Aneignung als unvermeidlich, auch als Bereicherung, die unter anderem aus Bewunderung geschieht. Sie trage zur Vielfalt bei. Ohne kulturelle Aneignung würden Mitteleuropäer nicht auf Sofas sitzen oder Apfelstrudel essen, beides hat seinen Ursprung in asiatischen Kulturen. Soweit Wikipedia. Kann ich auch verstehen. Der Maori von oben ist mir sympathisch. Ich eigne mir jetzt seine gute Laune an und applaudiere Frauen nicht, die keinerlei Bezug zu Kultur, Geschichte und romanischer Sprache haben und den typischen Engadiner Ohrschmuck tragen, die sogenannten „morins», eines der Symbole der Engadiner Emigration. Auch keine Haue gibt es für die sprachlichen Kulissenschieber, die mich begeistert mit «Che bels mumaints», «pachific» und «Allegra» beglücken, aber über diese Versatzstücke nie hinauskommen und auch nicht hinauskommen wollen. Auch erlaube ich mir jederzeit die Augen zuzukneifen, wenn mich ein Monument neoengadinischer Scheusslichkeit mit Sgrafits und zehn romanischen Hausinschriften plagt. Ich sage ja nichts. Ich sprenge ja nicht. Ich kneife nur die Augen zu.

Riet und Romana Ganzoni

Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.