26.03.2017 Dominik Brülisauer 5 min
Bild: Dominik Brülisauer

Bild: Dominik Brülisauer

 Wenn man im Winter im Engadin unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Langläufer. Das ist so sicher, wie man in Asien auf einen Tuk-Tuk-Fahrer trifft oder im Fahrstuhl auf einen Stummen.

 Während meiner Kindheit in Pontresina war mein Vater für die Präparationen der Loipen zuständig. Mit ihm im Loipenraupenfahrzeug mitzufahren, das war für mich so cool wie für Bastian Bux aus der Unendlichen Geschichte auf Drache Fuchur über Phantásien zu fliegen, und mindestens so aufregend wie für eine Rentnerin im Tourbus von Peter Maffay mitzureisen. Mein Vater hat längere Linien in den Schnee gezogen, als jemals Schneelinien während einer Silvesternacht in St. Moritz gezogen wurden – hehehe. Bei diesen Fahrten hatte ich ausreichend Gelegenheit, die Spezies Langläufer in freier Wildbahn zu studieren. Der Langläufer ist das Duracell-Häschen unter den Sportlern – sonst wäre er ja wohl ein Kurzläufer geworden. Zu seinen Eigenschaften gehören eine eiserne Kondition, ein gestählter Körper und ein Wille aus Titan. Dank diesen Eigenschaften sollte man es also während einem sommerlichen Blitzgewitter vermeiden, auf freiem Feld neben einem bekennenden Langläufer zu stehen – dies nur zur Warnung. Am wohlsten fühlt sich der Langläufer im eisigen Gegenwind, auf einem brutalen Aufstieg oder einen Nanometer vor seiner Leistungsgrenze. In der festen Überzeugung, etwas für seine Gesundheit zu tun, beutet der Langläufer seinen Körper ungefähr so aus wie Apple seine Fabrikarbeiter in Taiwan. Schritt für Schritt beisst er sich durch die endlosen Wälder, kämpft sich über die gefrorenen Seen oder trotzt hoch oben auf dem Berninapass dem Sauerstoffmangel, der Höhensonne oder den Sirenengesängen der Bergbahnen. Ja, Bergbahnen, wer braucht die schon? Diese technischen Hilfsmittel sind für die Skifahrer und Snowboarder reserviert. Solche Leute belächelt der Langläufer als Funsportler. Aber Sport und Spass gehören für Langläufer ganz einfach nicht zusammen. Der Terminus «Funsport» ist für Langläufer genauso widersprüchlich wie Fun-Darmspiegelungen, Fun-Beerdigungen oder Fun-Steuererklärungen und wirken auf ihn etwa gleich abstossend wie gesetzlich vorgeschriebene Feiertage, Wellness-Wochenenden oder Passivferien. Langläufer sind davon überzeugt, dass man auf dieser Welt nichts umsonst bekommen darf. Ohne Fleiss kein Preis, ohne abgefrorene Nasenflügel oder Krämpfe in den Beinen keinen glücklich machenden Endorphin-, Dopamin- und Serotoninausstoss. Und wenn man als Langläufer trotzdem mal seine Ferien irgendwo im Sommer verbringen muss, dann am liebsten im Erlebnishotel Guantanamo auf Kuba. Die vorwiegend amerikanischen Animateure unterhalten die Gäste mit Waterboarding, tagelangem Wachhalten und Helene-Fischer-Songs. Ja, das ist ein adäquater Ersatz zu den winterlichen Folterabenteuern auf den endlosen 220 Loipenkilometern im Engadin. Lustig ist die Tatsache, dass sich Langläufer ausserhalb der Loipen so elegant bewegen wie Giraffen, die gerade von einem Betäubungspfeil getroffen worden sind, aber sich noch krampfhaft dagegen sträuben, umzufallen. Sie rutschen mit ihren Langlaufschuhen die vereisten Dorfstrassen runter, ihre Skis in X-Form unter ihre Achselhöhlen geklemmt, die Stöcke im Schlepptau und mit ihren Händen verzweifelt nach Halt suchend – vielleicht an einer Verkehrstafel, an einer Hauswand oder am Rückspiegel eines vorbeifahrenden Autos. Wer auf Slapstick steht, pflanzt sich in ein Restaurant neben der Fussgängerzone und beobachtet die Komödie amüsiert über den Schaum seines Cappuccinos. Jegliche Form von Reality-TV kann da gleich einpacken.
 Aber sobald der Engadiner-Langläufer die Loipen erreicht hat, verwandelt er sich im Nullkommanichts in ein ästhetisches Fabelwesen, das federleicht in graziösen Bewegungen über den verschneiten Talboden fliegt und die Spaziergänger und die Wildtiere gleichermassen verzaubert. Hier kumuliert sich Dynamik und Rhythmus zu kraftvoller Poesie. Filippo Tommaso Marinetti würde dem Langläufer heute seine ganze Aufmerksamkeit und Verehrung schenken. In den zahlreichen Langlaufzentren treffen sich die Langläufer um sich bei einer fröhlichen Runde Isostar gegenseitig auszutauschen. Man gibt sich Wachstipps, macht ein paar schlüpfrige Witze über skandinavische Thermounterwäsche-Models, diskutiert die neuesten Skating- und Klassiklaufstile und schenkt sich geschlechtsunabhängig gegenseitig Komplimente für die alpinen Hipsterbärte aus Eis, Schnuder und Erbrochenem. In den Langlaufzentren stimmt man auch darüber ab, ob auf den Hundeloipen auch Katzen und Hamster erlaubt sein sollen oder wie saugfähig ein Schweissstirnband sein muss. Als Faustregel gilt, dass es pro Minute gleich viel Flüssigkeit absorbieren sollte wie aus den Mundwinkeln von Roger Schawinski läuft, wenn er an Roger Schawinski denkt. Also verdammt viel. Der Engadin Skimarathon bildet den Jahreshöhepunkt des Langläufers. Dieser gilt als die Streetparade des Engadins. Aber um ihre Leistungen zu erbringen, verlassen sich die Teilnehmer hier auf Energieriegel und Anfeuerungsrufe des Publikums, nicht auf Ecstasy und Technomusik. Die Tausenden von Teilnehmer laufen die 42 Kilometer von Maloja nach S-chanf und fühlen sich an diesem Tag Mitten in der Masse von Gleichgesinnten so richtig normal. Gewisse Läufer, die keine Ambitionen auf den Sieg hegen, legen die ganze Strecke in lustigen Verkleidungen zurück. Wenn du jetzt denkst, dass dies doch nach Funsport klingt, dann versuch doch mal mit deinem besten Freund 42 Kilometer in einem Kamelkostüm zurückzulegen. Richtig angenehm wird das, wenn du den hinteren Teil ausfüllst und sich dein Teampartner vor dir zum Frühstück mit mexikanischer Bohnensuppe gestärkt hat. Ich wünsche viel Fun. 

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer