Ein riesiger blauer Lastwagen fährt vor das Studentenwohnheim mitten in Shanghai. Der Fahrer öffnet die Verladetür, und zum Vorschein kommen ein Laufband, zwei Waschmaschinen, Kühlschränke und ganz hinten eine Matratze. Ich schaue den Fahrer an, deute auf die Matratze und nicke. Er klettert hoch und räumt Tetris-artig die Kisten um, bis er nach hinten gelangt. Ohne mit der Wimper zu zucken, hievt er meine Bestellung hoch und folgt mir bis zu meinem Zimmer. Drei Tage habe ich sehnsüchtig auf diese Lieferung gewartet, damit ich endlich in mein Studierendenzimmer einziehen und meinen Alltag als Austauschstudentin richtig beginnen kann. Denn hier bin ich – über 9.000 Kilometer von zu Hause entfernt – in der Millionenstadt Shanghai, wo ich mein letztes Semester an der Shanghai Jiao Tong University verbringe.
Nun befreie ich die Matratze aus ihren neun Plastikschichten, platziere sie auf meinem Bett, beziehe sie und lege mich darauf. Doch was ich spüre, ist keine weiche, kuschelige Schlafstätte, sondern ein hartes Holzbrett. Oder es fühlt sich zumindest so an. Drehe ich mich zur Seite, bohren sich meine Hüftknochen in die Matratze. Liege ich auf dem Rücken, wehrt sich jeder einzelne Wirbel dagegen. Also stehe ich wieder auf, packe meine Tasche und fahre zum nächsten grösseren Einkaufszentrum. Im Einrichtungshaus, das an Ikea erinnert, scanne ich den Stockwerkplan, übersetze die Schriftzeichen und fahre in den fünften Stock, wo sich die Bettenabteilung befindet. Bei den Matratzentoppern fotografiere ich die verschiedenen Beschreibungen, übersetze sie, gebe die Preise in den Währungsrechner ein und treffe schliesslich meine Wahl. An der Self-Scanning-Kasse wird mein Einkauf doch von Angestellten gescannt, verpackt und mit der All-in-One-App bezahle ich, bevor ich das Einkaufszentrum eine halbe Stunde später wieder verlasse. In der Zwischenzeit habe ich über dieselbe App ein Taxi bestellt, das mich durch den dichten Nachmittagsverkehr zurück auf den Campus bringt.
Ein paar Stunden später stehe ich in der zweistöckigen Kantine in einer langen Schlange, um mir eine chinesische Nudelsuppe zum Abendessen zu bestellen. Da die Übersetzungs-App das Gericht als „schneereiches Rind mit langen Spaghetti“ bezeichnet, zeige ich der Köchin vorsichtshalber auf einen Topf mit Gemüse und Nudeln, um sicherzugehen, dass ich mein gewünschtes Essen bekomme. Nachdem ich die 80 Rappen bezahlt und Koriander sowie Chiliflocken darübergestreut habe, setze ich mich mit anderen Studierenden an einen der langen Tische und schlürfe die Suppe mit Stäbchen und Löffel. Danach schlendern wir gemeinsam über den Campus zurück zum Wohnheim, teilen chinesische Süssigkeiten aus dem Supermarkt unter dem Kirschblütenbaum vor dem Haus und lassen das erste Wochenende in unserem neuen Zuhause entspannt ausklingen.

Larissa Bassin
Larissa Bassin ist 25 Jahre alt und in La Punt Chamues-ch aufgewachsen. Die ehemalige Praktikantin der Engadiner Post studiert an der Universität St. Gallen Rechtswissenschaft mit Wirtschaftswissenschaften. Dabei entdeckte sie, dass sie wohl eher ein Stadtkind ist und schätzt das kulturelle Angebot, die Vielfalt der Menschen, die Anonymität, Abendverkäufe, das Nachtleben und kleine Cafés, die tatsächlich immer Hafermilch im Angebot haben. Nichtsdestotrotz zieht es sie gerade im Winter auf die Pisten, wofür sie die ein oder andere Vorlesung sausen lässt, oder sie wandert auf den Piz Mezzaun, wenn sie den Kopf lüften muss.
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