12.02.2025 Redaktion Engadiner Post 4 min
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Foto: Sils Tourismus

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Traditionen und Bräuche gehören zum Wesen des Menschen. Sie prägen das gesellschaftliche Leben, sind Zeugnis der Kultur und sind oft an bestimmte Orte oder Daten gebunden. Gleichzeitig unterliegen Traditionen und Bräuche aber auch einem Wandel, da sie von verschiedenen Generationen gelebt werden. So auch der Chalandamarz – ein jährlich wiederkehrendes Ritual.
Als Ritual bezeichnet man eine Handlung, die nach vorgegebenen Regeln in einem formalen Ablauf festlich und feierlich gestaltet ist und einen hohen Symbolgehalt hat. Indem Rituale auf vordefinierte Handlungsabläufe und bekannte Symbole zurückgreifen, vermitteln sie Halt und Orientierung. Ein gutes Beispiel dafür ist der berühmte Sketch «Dinner for one». Der Kult-Sketch um die alte Dame Miss Sophie und ihren Butler James, der vor 60 Jahren zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, hat bis heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren und wird immer noch an jedem Silvesterabend von Tausenden von Menschen im Familienkreis angeschaut, in schwarz-weiss, ohne Qualitätsan­passung und das in mehr als 20 Ländern. 
Die Tradition, der Brauch, das Ritual, so wie es im Buch steht. Aus meiner Sicht sogar ein «factum brutum», also eine Tatsache, die keine Erklärung zulässt, oder anders ausgedrückt: «So isches e basta.»

Mit dem oben erwähnten Beispiel wollte ich, als ich am vergangenen Wochenende mit meiner Familie am ­Küchentisch sass und gelbes, vorgeschnittenes «Rösaspaier» nach genauen Angaben meines 11-jährigen Sohnes Blatt für Blatt vorsichtig in die gewünschte Form drehte, den «richtigen Chalandamarz», nämlich den von Samedan, verteidigen.
Als «Samedrin» erklärte ich, dass wir Knaben die Rösas nicht selber machen mussten. «Ich musste nur mutig genug sein, das richtige Mädchen zu fragen, ob sie mir die bunten Papierblumen machen würde, was gleichzeitig bedeutete, dass das angefragte Mädchen bei einer positiven Antwort auch das Mädchen war, mit dem man am Chalandamarzball die Polonaise tanzen durfte», erklärte ich meinem in Sils Maria aufwachsenden und geduldig zuhörenden Sohnemann. 
Was waren das für unglaubliche Gefühle. Und dann, die schüchterne Anfrage an das jeweilige Mädchen, ob sie vielleicht im nächsten Jahr wieder bereit wäre, mir die «Rösas» zu machen. Die Anfrage musste jeweils früh gemacht werden. Oft schon kurz nach den Sommerferien, kurz nach Schulbeginn. Und wie gross war die Enttäuschung, wenn die Antwort kam: «S-schüsa, aber Peider hat schon gefragt,» 

Eigentlich wollte ich in diesem Blog eine Geschichte über den Chalandamarz in Samedan schreiben, ohne den Anspruch zu erheben, dass dies der einzig wahre Chalandamarz ist. Ich wollte erzählen, dass in Samedan jedes Jahr ein eigentliches Klassentreffen aller Auswärtigen, Zweitheimischen und Hiergebliebenen stattfindet, dass sie extra für dieses Fest nach Samedan kommen, um gemeinsam von Singplatz zu Singplatz der Kinder zu ziehen und sich am Mittag bei einem guten Essen und einem «Quintin vin cotschen» alte Geschichten erzählen, dass auch das «schlupper la geischla» in Samedan eine wichtige Tradition ist und dass überhaupt alles anders ist als in Sils. 
Während ich noch nach weiteren stichhaltigen Argumenten suchte, um meinem Sohn den Chalandamarz in Samedan schmackhaft zu machen, korrigierte er mich immer wieder beim Drehen der Rösas und meinte freundlich, wenn ich mit den gelben fertig sei, könne ich ja mit den roten anfangen. «Und wenn du am Chalandamarz nach Samedan gehen willst, kein Problem, am Mittag sind wir sowieso im Waldhaus eingeladen und dann bist du allein, ausser du gehst wie alle anderen Eltern auch ins Seraina zum Mittagessen.» Und mit welchem Mädchen er am Sonntag den Abschlusstanz tanzen wird, wisse er noch nicht. «Das wird das Los entscheiden. Ganz nach Silser Tradition.»

Was soll ich da noch sagen? E viva il Chalandamarz. Wo und wie auch immer.

Autor: Andrea Gutgsell
Andrea Gutgsell schreibt als Redaktor seit 2023 für die Engadiner Post. 

Redaktion Engadiner Post

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