04.12.2016 Dominik Brülisauer 10 min
Bild: Dominik Brülisauer

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Wenn man im Spätherbst im Engadin unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Eisläufer. Das ist so sicher, wie man in seiner Nase auf einen Böögg trifft oder am Mittwochnachmittag im Bobby’s Pub auf betrunkene Gymnasiasten. Gut, zugegeben, auf die Eisläufer trifft man nicht jedes Jahr. Zuerst müssen ein paar meteorologische Komponenten glücklich zusammenspielen. Damit sich auf den Seen Schwarzeis bilden kann, braucht es eine längere Kälteperiode ohne Schneefall. Für Engadiner ist das Schwarzeis ein willkommeneres Naturereignis als Regenfall für die Tuareg, Tsunamis für Atomkraftgegner oder Erdbeben für die Bauindustrie. Gespannt warten die Engadiner an den Seeufern bis sich die erste Person auf das erstarrte Wasser wagt. Ab diesem Zeitpunkt gilt die Schwarzeiszeit als offiziell eröffnet. Das Risiko kann man ungefähr ab vier Zentimeter Eisdicke eingehen. Dann gibt es kein Halten mehr. So wie am 22. April 1889 beim Oklahoma-Land-Run die weissen Siedler auf das frisch geklaute Indianerterritorium losgelassen wurden, stürmen die Engadiner mit Schlittschuhen an den Füssen die neu erschlossenen Gebiete. Freude herrscht. Jungfräuliches Schwarzeis ist so durchsichtig wie ein Burkini von Victoria’s Secret. Man steht auf dem Eis und sieht unter sich den Grund des Sees. Das ist immer wieder ein faszinierendes Erlebnis – und immer wieder gewöhnungsbedürftig. Man hat das Gefühl, man gehe wie Jesus über das Wasser. Da man selber aber an seinen überirdischen Fähigkeiten zweifelt, schärft man alle seine Sinne. Man sucht nach Rissen im Eis oder horcht nach verdächtigen Geräuschen wie Glucksen oder Knallen. Das Erbe von Millionen Jahren Evolution aktiviert alle Warnglocken im Körper und sagt einem: «Mein lieber Freund, du hast hier nichts verloren. Geh besser ans sichere Ufer und gib deine Gene weiter. Und zwar am richtigen Ufer, bitteschön». In der Nähe von Ausflüssen wird das Eis immer dünner. Und aufgrund von wärmeren Strömungen kann es auch mitten im See weniger gefrorene Abschnitte geben. Als wir früher mit der Familie uns auf dem Silsersee oder auf dem Lej Nair vergnügt haben, hat mein Vater meinen Bruder und mich dazu genötigt, stets 30 Meter vor ihm herzulaufen. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er uns dabei am Bergseil Gassi geführt hat und er uns im Notfall bestimmt auch aus dem See gefischt hätte. Die moralischen Bedenken meiner Mutter hat er immer mit dem Argument «Für etwas hat man schliesslich Kinder» oder mit dem Spruch «Eines Tages schaffen sie bestimmt den Durchbruch» abgewehrt. Falls du keine Kinder hast, die du als Frühwarnsystem an der langen Leine führen kannst, hier zwei andere Sicherheitsratschläge. Erstens: Trage unter deinen Kleidern einen Neoprenanzug. Während dem Eishockeyspielen schwitzt du damit zwar mehr als Mike Müller auf dem Laufband, aber im Notfall bist du froh darüber. Falls das Eis unter dir einbricht, kannst du damit locker noch eine Runde im See schwimmen und den schockierten Gaffern zurufen, dass das Wasser wieder mal herrlich angenehm temperiert sei. So machst du jedenfalls einen cooleren Eindruck als die Leute, die ins Wasser fallen und im Todeskampf hysterisch herumschreien und hektisch herumzappeln. Für die Leute rundherum sind solche Vorstellungen immer ein wenig unangenehm. Zweitens: Um das Eis unter dir nicht zu überlasten, solltest du dafür sorgen, dass sich möglichst wenig Menschen um dich drängen. Dazu gibt es diverse Möglichkeiten: Besuche vor dem Eislaufen eine dreistündige Schnupperführung in der ARA Silvaplana. Trage ein T-Shirt mit der Aufschrift «Sammle für Greenpeace» und winke den Leuten mit einer Kasse zu. Oder verkleide dich als Bischof Vitus Huonder – das beste Anti-Brumm gegen Menschen. Nach einer gewissen Zeit auf dem See legt sich die Nervosität und man beginnt das Schwarzeis so richtig zu geniessen. Mädchen üben ihre Pirouetten, die Jungs wählen zwei Mannschaften und spielen zwischen zwei provisorisch errichteten Toren Eishockey. Wie du siehst, die Geschlechterrollen sind bei uns noch klar verteilt. Hunde jagen den Pucks nach, Pärchen üben sich im Paarlauf, Freunde und Bekannte treffen sich und freuen sich über den exotischen Ort ihrer Begegnung. Sie halten einen kurzen Schwatz über ihre drückenden Schlittschuhe oder darüber, dass man ein schlechtes Gewissen habe, weil man für dieses herrliche Erlebnis niemandem etwas bezahlen darf. Ja, auch ich komme mir auf dem Schwarzeis nicht selten vor wie ein Schwarzfahrer. Ab und zu trifft man auf dem See auch auf Frösche oder Fische, die vom Eis überrascht und eiskalt eingefroren wurden. Je nach dem, was man für ein Typ ist, empfindet man beim Anblick dieser Loser Mitleid oder Belustigung. Dann überlegt man sich, ob es in naher Zukunft wohl auch Touristen auf den Malediven geben wird, die so unglaublich faul und reaktionsschwach sind, dass sie vom klimawandelbedingten Anstieg des Meeresspiegels überrascht und auf ihren Liegestühlen dösend ertrinken werden. Ich glaube, jeder hat so einen Kandidaten in seinem Freundeskreis. Apropos Freundeskreis. Nach dem Eislaufen haben bereits die ersten Pop-up-Bars am Ufer ihren Betrieb aufgenommen. Beim Glühweintrinken kannst du deine Intelligenz unter Beweis stellen und deinen Freunden erklären, dass die Eisplatte nicht auf den Ufern abgestützt ist, sondern dass das Eis auf dem Wasser schwimmt. 98% deiner Zuhörer werden dich mit ungläubigen Augen anstarren und dich als Professor Superbrain betiteln. Vielleicht ist das aber auch nur in meinem Freundeskreis so. Ich wünsche viel Spass auf den Seen. 
Wenn man im Spätherbst im Engadin unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Eisläufer. Das ist so sicher, wie man in seiner Nase auf einen Böögg trifft oder am Mittwochnachmittag im Bobby’s Pub auf betrunkene Gymnasiasten.

Gut, zugegeben, auf die Eisläufer trifft man nicht jedes Jahr. Zuerst müssen ein paar meteorologische Komponenten glücklich zusammenspielen. Damit sich auf den Seen Schwarzeis bilden kann, braucht es eine längere Kälteperiode ohne Schneefall. Für Engadiner ist das Schwarzeis ein willkommeneres Naturereignis als Regenfall für die Tuareg, Tsunamis für Atomkraftgegner oder Erdbeben für die Bauindustrie.

 

Gespannt warten die Engadiner an den Seeufern bis sich die erste Person auf das erstarrte Wasser wagt. Ab diesem Zeitpunkt gilt die Schwarzeiszeit als offiziell eröffnet. Das Risiko kann man ungefähr ab vier Zentimeter Eisdicke eingehen. Dann gibt es kein Halten mehr. So wie am 22. April 1889 beim Oklahoma-Land-Run die weissen Siedler auf das frisch geklaute Indianerterritorium losgelassen wurden, stürmen die Engadiner mit Schlittschuhen an den Füssen die neu erschlossenen Gebiete. Freude herrscht.

 

Jungfräuliches Schwarzeis ist so durchsichtig wie ein Burkini von Victoria’s Secret. Man steht auf dem Eis und sieht unter sich den Grund des Sees. Das ist immer wieder ein faszinierendes Erlebnis – und immer wieder gewöhnungsbedürftig. Man hat das Gefühl, man gehe wie Jesus über das Wasser. Da man selber aber an seinen überirdischen Fähigkeiten zweifelt, schärft man alle seine Sinne. Man sucht nach Rissen im Eis oder horcht nach verdächtigen Geräuschen wie Glucksen oder Knallen. Das Erbe von Millionen Jahren Evolution aktiviert alle Warnglocken im Körper und sagt einem: «Mein lieber Freund, du hast hier nichts verloren. Geh besser ans sichere Ufer und gib deine Gene weiter. Und zwar am richtigen Ufer, bitteschön». 

 

In der Nähe von Ausflüssen wird das Eis immer dünner. Und aufgrund von wärmeren Strömungen kann es auch mitten im See weniger gefrorene Abschnitte geben. Als wir früher mit der Familie uns auf dem Silsersee oder auf dem Lej Nair vergnügt haben, hat mein Vater meinen Bruder und mich dazu genötigt, stets 30 Meter vor ihm herzulaufen. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er uns dabei am Bergseil Gassi geführt hat und er uns im Notfall bestimmt auch aus dem See gefischt hätte. Die moralischen Bedenken meiner Mutter hat er immer mit dem Argument «Für etwas hat man schliesslich Kinder» oder mit dem Spruch «Eines Tages schaffen sie bestimmt den Durchbruch» abgewehrt.

 

Falls du keine Kinder hast, die du als Frühwarnsystem an der langen Leine führen kannst, hier zwei andere Sicherheitsratschläge. Erstens: Trage unter deinen Kleidern einen Neoprenanzug. Während dem Eishockeyspielen schwitzt du damit zwar mehr als Mike Müller auf dem Laufband, aber im Notfall bist du froh darüber. Falls das Eis unter dir einbricht, kannst du damit locker noch eine Runde im See schwimmen und den schockierten Gaffern zurufen, dass das Wasser wieder mal herrlich angenehm temperiert sei. So machst du jedenfalls einen cooleren Eindruck als die Leute, die ins Wasser fallen und im Todeskampf hysterisch herumschreien und hektisch herumzappeln. Für die Leute rundherum sind solche Vorstellungen immer ein wenig unangenehm.

Zweitens: Um das Eis unter dir nicht zu überlasten, solltest du dafür sorgen, dass sich möglichst wenig Menschen um dich drängen. Dazu gibt es diverse Möglichkeiten: Besuche vor dem Eislaufen eine dreistündige Schnupperführung in der ARA Silvaplana. Trage ein T-Shirt mit der Aufschrift «Sammle für Greenpeace» und winke den Leuten mit einer Kasse zu. Oder verkleide dich als Bischof Vitus Huonder – das beste Anti-Brumm gegen Menschen.

 

Nach einer gewissen Zeit auf dem See legt sich die Nervosität und man beginnt das Schwarzeis so richtig zu geniessen. Mädchen üben ihre Pirouetten, die Jungs wählen zwei Mannschaften und spielen zwischen zwei provisorisch errichteten Toren Eishockey. Wie du siehst, die Geschlechterrollen sind bei uns noch klar verteilt. Hunde jagen den Pucks nach, Pärchen üben sich im Paarlauf, Freunde und Bekannte treffen sich und freuen sich über den exotischen Ort ihrer Begegnung. Sie halten einen kurzen Schwatz über ihre drückenden Schlittschuhe oder darüber, dass man ein schlechtes Gewissen habe, weil man für dieses herrliche Erlebnis niemandem etwas bezahlen darf. Ja, auch ich komme mir auf dem Schwarzeis nicht selten vor wie ein Schwarzfahrer.

 

Ab und zu trifft man auf dem See auch auf Frösche oder Fische, die vom Eis überrascht und eiskalt eingefroren wurden. Je nach dem, was man für ein Typ ist, empfindet man beim Anblick dieser Loser Mitleid oder Belustigung. Dann überlegt man sich, ob es in naher Zukunft wohl auch Touristen auf den Malediven geben wird, die so unglaublich faul und reaktionsschwach sind, dass sie vom klimawandelbedingten Anstieg des Meeresspiegels überrascht und auf ihren Liegestühlen dösend ertrinken werden. Ich glaube, jeder hat so einen Kandidaten in seinem Freundeskreis.

 Apropos Freundeskreis. Nach dem Eislaufen haben bereits die ersten Pop-up-Bars am Ufer ihren Betrieb aufgenommen. Beim Glühweintrinken kannst du deine Intelligenz unter Beweis stellen und deinen Freunden erklären, dass die Eisplatte nicht auf den Ufern abgestützt ist, sondern dass das Eis auf dem Wasser schwimmt. 98% deiner Zuhörer werden dich mit ungläubigen Augen anstarren und dich als Professor Superbrain betiteln. Vielleicht ist das aber auch nur in meinem Freundeskreis so. Ich wünsche viel Spass auf den Seen.    

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer