10.10.2016 Dominik Brülisauer 5 min
Bild: Dominik Brülisauer

Bild: Dominik Brülisauer

Wenn man im Engadin am Wandern ist, begegnet man früher oder später einem Mountainbiker. Das ist so sicher, wie man im Wald auf einen Baum trifft oder im Kino auf Teenager, die sich extrem viel zu erzählen haben. Der Mountainbiker bremst, steigt von seinem Gefährt ab, tritt zur Seite und lässt den Wanderer vorbeiziehen. Dabei grüsst man sich freundlich und hält noch einen kleinen Schwatz. 
 Wanderer zur Mountainbiker: «Schön, dass ihr mit euren neuen Bikes so gut wie überall raufkommt. Früher war es hier oben sehr einsam für das gemeine Fussvolk.» Mountainbiker zu Wanderer: «Vielen Dank, das ist sehr zuvorkommend von Ihnen. Übrigens müssen wir gegen die Invasion der Allmountain-Segwayfahrer, die schon bald in unser Territorium eindringen werden, unbedingt etwas unternehmen». Die Situation war nicht immer so konfliktfrei. Als die ersten Mountainbiker in den späten 80er Jahren angefangen haben die Berge des Engadins zu erobern, wussten die Wanderer noch nicht so genau, wie man mit ihnen umgehen sollte. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mit meinem neuen Alpinestars Mountainbike mit frisierter Hupe und praktischer Spaziergängerstossstange durch den Stazerwald gerast bin. Komischerweise wurde ich damals von den Wandervögeln so freundlich angekuckt wie Donald Trump als Überraschungsgast bei einem mexikanischen Feministinnen-Workshop. Damals entbrannten hitzige Diskussionen und man malte sich die fantasievollsten Horrorszenarien aus. Kritiker wie Samuel Huntington warnten vor einem «Kampf der Kulturen». Wie damals die Bleichgesichter die Indianer von der saftigen Prärie in trostlose Reservate geprügelt hätten, so würden die eindringenden Biker die Engadiner Wanderer ins finstere Puschlav vertreiben. Andere machten sich für ein Apartheidsystem stark. Die linke Talseite für Wanderer, die rechte für Biker. Gemässigtere Kräfte riefen «Wir schaffen das», erinnerten an den Fall der Berliner Mauer und plädierten für eine Politik der offenen Arme. 
 Man erwähnte auch, dass 1984 mit Elisabeth Kopp die erste Frau in den Bundesrat gewählt wurde. Die männlichen Bundesräte waren anfangs auch nicht besonders erfreut darüber, dass sie jetzt während den Sitzungen Hosen tragen müssen, aber auch sie haben sich heute an die weiblichen Eindringlinge gewöhnt. Wir Engadiner wären nicht die Engadiner, hätten wir nicht das finanzielle Potenzial der Biker erkannt und sie bei uns im Tal erfolgreich assimiliert. Heute zocken wir sie gleichberechtigt zu allen anderen Gästen ab. Und das Beste: einem Biker macht es nicht mal etwas aus, in einer Bergbeiz 30 Franken für einen Teller Rösti zu bezahlen. Schliesslich werden moderne Bikes aus Materialien gefertigt, die sonst nur in der Raumfahrt angewendet werden. Das macht die Fahrräder zwar leichter als den Bildungsrucksack eines Pegida-Aktivisten, aber dafür kosten sie auch mehr als Mel Gibson die Scheidung von Frau Gibson. Dank ihrer Kaufkraft sind die Biker heute im Engadin so willkommen wie ein Sugar-Daddy im Mädcheninternat oder ein durchschnittlich verdienender Europäer in Indien, Kenia oder Süditalien. Biker ist mittlerweile nicht gleich Biker. Analog zu den Darwinfinken auf den Galapagos-Inseln haben die Mountainbiker im ganzen Engadin Nischen entdeckt und sich erfolgreich an diese angepasst. Der Homo-Bikus-Faulpelzus fährt mit der Bahn auf die Corviglia und vergnügt sich beim Runterfahren auf dem Flowtrail, der Homo-Bikus-Trampelnwargestern tobt sich auf einem Pumptrack aus und der Homo-Bikus-Seniorus geniesst auf seinem Elektrobike seine neu gewonnene Freiheit – dabei legt er heute die Strecke zwischen seinem Altersheim und seiner Telefonkabine, seiner Videothek oder seinem Offline-Friseur in neuer Rekordzeit zurück. Den Engadiner Biker erkennt man auch, wenn er nicht auf seinem Fahrrad sitzt. Seine Beine sind so glatt rasiert, ein Aal würde sich mit ihnen paaren wollen. Die Waden bergen mehr Sprengkraft als ein Taliban auf dem Weg zur Arbeit und seine engen Hosen können Geheimnisse weniger gut für sich bewahren als der angetrunkene Edward Snowden. 
 Wenn Biker aufeinander treffen, beschnuppern sie sich gegenseitig und schenken sich Bemerkungen wie «Deine Reifen haben wesentlich mehr Profil als die FDP», «Wow, mit diesen Bremsklötzen könntest du ja sogar die EU auf dem Weg in den Abgrund stoppen» oder «Mit dieser Schaltung würdest du sogar die Karriere von Johnny Depp wieder in die Gänge bringen». Zugegeben, so transkribiert klingen diese Diskussionen sehr merkwürdig. Aber die tönen tatsächlich so – jedenfalls immer, wenn ich dabei bin. Zum Schluss meine Lieblingsbikestrecke als Geheimtipp: Von Pontresina aus ein lockeres Aufwärmtrampeln auf den Berninapass, der Piste nach auf die Diavolezza, von dort über den Piz Palü und die Crast’Agüzza auf den Piz Bernina. Nach einer kurzen Verschnaufpause und einem Energieriegel beginnt die rasante Abfahrt über den Biancograt runter bis zur Bovalhütte.  Dort trinkt man ein Radler zur Auffrischung und geniesst den Blick auf den Morteratschgletscher. Achtung: der Biancograt ist nichts für Anfänger. Falls du noch Stützräder benötigst, ist er zu schmal. Allen anderen wünsche ich viel Spass. 

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer