Foto: Benjamin Hofer
Stehe ich vor jungen Menschen und reden wir über ein Projekt, erlaubt mir diese Interaktion, mich mit meinen bereits gelebten Anteilen zu verbinden, gleichzeitig solidarisiere ich mich innerlich mit dem Gegenüber. Es fliessen jeweils so gute Energien, dass ich es bereue, nicht mehr Lehrerin zu sein. Wie schön war das! Und wie faszinierend ist es, dass jedes Alter die vorausgegangenen Alter enthält, das Neugeborene speichert alle Erfahrungen und Gefühle in seinem Körper und trägt sie weiter, als Kleinkind, in die Pubertät, in die Dreissiger. Bis zum Tod. Diese Anteile werden in einer optimalen Umgebung und unter gegenseitiger Förderung abrufbar, besonders in kreativen Prozessen, die die Menschen befreien und manchmal an einen Ort führen, den sie noch nicht kennen.Auch löst ein kreativer Prozess in einer Gruppe Hierarchien auf, jede Person anerkennt die andere in ihrer Eigenart, sieht sie als originell, als überraschend, der jüngste Mensch im Team kann jederzeit der grösste Star werden oder alle folgen dem, der sonst nicht viel sagt, eine andere Stimme wird kräftiger, hier ein neuer Sound, da wächst eine Autorin, ein Schauspieler hat ein Augenspiel, das verblüfft, die eine kleine Geste macht den grossen Unterschied, ein sanfter Mensch explodiert vor Wut auf der Bühne, alle lernen von allen und greifen auf fremde und eigene Kräfte zu, sie spannen im Idealfall zusammen für das eine Ziel: gemeinsame künstlerische Arbeit und Auftritt. So geschehen im Zuoz Globe von September bis Dezember 2022.Es war kein Marienwunder. Der Mann heisst Ivo Bärtsch. Tänzer, Performer, Regisseur. Theaterleiter. So talentiert und klug wie komplett uneitel. Mit einer Familie im Rücken, Riika Läser, Tänzerin und Choreografin, zwei theaterbegeisterte Söhne, der ältere, Simo Bärtsch, spielte Johnny im Stück, das im Laufe der Wochen den Titel «Zu nah, um nicht dabei gewesen zu sein» erhielt.
Als ich im September 2022 die Shakespeare Company - 14 junge Schauspielerinnen und Schauspieler - zum ersten Mal besuchte und mit meinem Text «Blick und Tat» über Gewalt unter Jugendlichen auf die Bühne trat, roch es in den Rängen nach Neugier und Lebendigkeit, da waren aber auch grosse Ruhe und Fokus. Hallo, Ihr Besten, dachte ich - später habe ich es ausgesprochen -, nichts weniger fiel mir zu den zugewandten Gesichtern ein. Ivo Bärtsch hatte die Gruppe vorbereitet, sie und mich so spielerisch wie ernsthaft eingeführt. Ich las vor. Beim schwarzen Herzen des Textes überkam mich leichte Übelkeit, hoffentlich war ich nicht zu weit gegangen, nein, die Company ging mit Shakespeare-Texten um, Weltliteratur ist kein Spaziergang. Es folgten engagierte Diskussionen. Alle, besonders Nadine Hosang und Valentina Alvarez, schrieben Szenen und kreierten Figuren mit dem Ziel, Jugendgewalt nicht nur einen Rahmen zu geben, hier wurden ganz verschiedene Verhalten – aktive, passive, alles dazwischen –, Charakter, Temperamente, Positionen, Macht- beziehungsweise Ohnmachts-Konstellationen ausgelotet, Systeme untersucht, sei dies Klassenverband, Schule, Rechtsprechung, Familie, aber auch übergeordnete Ideen und Sprache. Ivo Bärtsch arrangierte unermüdlich Texte und Szenen, besprach mit dem Team wieder und wieder die temporeiche, komplexe Geschichte mit fliegenden Wechseln und montierten Rückblicken, bis das brillante und dichte Gemeinschaftswerk am 4., 5. und 7. Dezember das Publikum 45 Minuten lang in seinen Bann zog und riesige Begeisterung auslöste. Hier nochmals Applaus, Verneigung und herzlichen Dank an alle bereits Genannten für dieses famose Abenteuer sowie an Andri Arquint als Samuel und Vater, Seraina Agrippi als Mara, Eugénie Gachon als Frau Jansen, Sunita Gfeller als Alex, Estelle Hagen als Duris Mutter, Nina Koch als Samuels Mutter, Bibi Morosani als Jenny, Giulia Pietrogiovanna als Duris Verteidigerin, Lina Salzgeber als Samuels Verteidigerin, Anna Ursina Schucan als Claudia, Tassilo Testa als Duri und Vater, Emil Wassermann als Aron, Lynn Willy als Nora. Fotos: Benjamin HoferRomana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
Diskutieren Sie mit
anmelden, um Kommentar zu schreiben