23.01.2023 Anne-Marie Flammersfeld 4 min
Foto: shutterstock.com/Ground Picture

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Für manche Leute bin ich sicherlich ein Rätsel, da sie mit meinem unstillbaren Bewegungsdran nichts anfangen können. Die wenigsten wissen wahrscheinlich, dass es mir bei der Bewegung häufig gar nicht um die Bewegung als solches geht. Ich laufe (renne, säckle, springe) oft durch die Gegend, um neue Energie, neue Ideen und neue Sichtweisen zu bekommen. Denn ist mein Körper in Bewegung, so ist es auch mein Geist. Wenn ich mich auf Vorträge vorbereite, dann renne ich gerne samt Karteikarten ins Val Roseg und retour. Das geht mit den Karten ganz wunderbar, da die Fahrstrasse bis zum Hotel grosszügig gebaut und ohne Hindernisse zu bewältigen ist. Auf dem Weg dorthin bin ich wie im Tunnel und gehe meine Sätze Schritt für Schritt durch. Das hat den Vorteil, dass ich gar nicht merke, dass ich renne und mal eben 14km abspule. Ok, das hat natürlich mit einer grossen Ausdauer zu tun und Laufanfängerinnen zeigen mir jetzt wahrscheinlich einen Vogel. Aber neulich, bei einem kleinen Zwischendurchläufchen, da hat mich die Philosophie des Lebens von allen Seiten durchgeschüttelt und mir wahre Erkenntnisse geliefert. Es herrschte ein Wetter, bei dem sich selbst das letzte Eichhörnchen unter seinem Nussvorrat versteckt hat und kein Vogel einen Wimpernschlag getan hat. Aber ich! Ich wollte raus und brauchte frischen Wind für Geist und Seele. Und ich hatte richtig grosses Glück, denn der Wind schob mich von hinten an und ich flog wie ein Vogel über die Strecke. Das Laufen war auf einmal so leicht, als würde ich auf Wolken hüpfen. Der Genuss war aber so schnell vorbei, wie er gekommen war, denn irgendwann musste ich auf den Rückweg. Und das bedeutete die weisse Hölle. Sturm, Wind, Schnee, Hagel, fliegende Fahnen von vorne. Selbst das Flatterdach der Biogasanlage von Bauer Giovanoli hob und senkte sich wie grosse Wellen im Meer. Ich zog die Kapuze enger, schlang das Halstuch über Nase und Mund und kämpfte gegen den Wind an. In dem Moment wurde mir wieder einmal bewusst, wie nah Glück und Leid beisammen liegen. Von einem auf den anderen Moment konnte sich alles ändern. Ich überlegte (soweit das mit meinen gefrorenen Hirnzellen noch möglich war), welche Windrichtung ich lieber hätte: Rückenwind, Gegenwind oder vielleicht gar keinen Wind? Ich wägte Vor,- und Nachteile ab und kam schliesslich, als ich den windgeschützten Wald erreichte, zu dem Schluss, dass alles genau richtig ist, wie es ist. Erst durch die Abwechslung wird das Leben doch spannend. Und es braucht das eine, damit wir das andere bemerken. Die Dualität, die das Leben als solches mitbringt: ohne Rauf kein Runter. Ohne Warm kein Kalt. Ohne Licht keinen Schatten. Ohne Glück kein Leid. Ohne Bewegung keine Freude (ok, …). Als meine Hirnzellen nach und nach wieder Betriebstemperatur erreicht hatten, kam mir dann noch in den Sinn, dass man in solchen Momenten sehr viel über sich selbst kennen lernt. Die Selbstgespräche, die in solchen Situationen stattfinden, sagen viel über den Umgang mit Krisen. Wenn der Wind unaufhaltsam von vorne weht und man das Gefühl hat, keinen Zentimeter nach vorne zu kommen, dann kann man sich fürchterlich aufregen und den Wind anschreien! Oder man kann die Situation so annehmen, wie sie ist, in der Hoffnung und Gewissheit, dass sie sich auf wieder ändern wird! Die Energie, die man beim Aufregen verbrät, kann befreiend sein. Interessant ist dann aber der nächste Schritt, wie man es schafft, aus der Krise herauszukommen. Die Windrichtung kann man oft nicht ändern, aber die Einstellung dazu. In diesem Sinne: es lohnt sich immer, rauszugehen und sich zu beobachten! Mein Musiktipp: https://www.youtube.com/watch?v=dlQlbM1bYMA

Anne-Marie Flammersfeld

Anne-Marie Flammersfeld ist Diplom-Sportwissenschaftlerin, Personal Trainerin und hat einen BSc. in Psychologie. Sie hält einige sportliche Rekorde. So konnte sie 2012 als erste Frau der Welt alle vier Rennen der «Racing the Planet 4 Deserts Serie» gewinnen und lief 1000 Kilometer durch die vier grössten Wüste der Welt. Sie ist in 8h32 auf den Kilimanjaro gelaufen und konnte den damaligen Weltrekord um gute drei Stunden verbessern. Am Nordpol war sie auch und ihr Streckenrekord steht immer noch bereit, um eingeholt zu werden. Die 1978 geborene deutsche Sportlerin arbeitet mit ihrem Unternehmen all mountain fitness in St. Moritz und dem Engadin. Als Personal Trainerin ist sie für alle da, die etwas Nachhilfe in Sachen Bewegung brauchen! Aber immer mit einem Augenzwinkern. Sie hält regelmässig Vorträge zu Themen aus den Bereichen Motivation, Begeisterung und Grenzen überwinden.
www.allmountainfitness.ch
annemarieflammersfeld.blogspot.com