18.05.2022 Bibi Vaplan 3 min
Foto: Magdalena Olkowna

Foto: Magdalena Olkowna

In meiner Gymnasiums Zeit in Ftan, mussten wir alle 194 Länder der Welt inklusive dazugehörigen Städte auswendig lernen. Diese Aufgabe schien mir damals unmöglich. Doch ich habe das Gymnasium überlebt, habe studiert, gearbeitet und die meisten Namen der Länder und Hauptstädte wieder vergessen. 
Nicht vergessen habe ich, dass für mich damals der Klang eines Landes eine besondere Faszination hatte: Madagaskar. Auch dessen Hauptstadt Antananarivo bezauberte mich mit seinem einzigartigen Klang und Rhythmus. Gerne würde ich ein Zeitreise machen. Am liebsten als rothaarigen Fee in einer schwarzen Lederjacke. Mein bevorzugtes Transport-Mobil wäre eine Zeit-Reise-Rakete mit der Aufschrift: Cassandra. Damit würde ins Jahr 1994 zum Hochalpinem Institut fliegen. Zu einer Zeit, als ich mich klaglos dieser für mich sinnlosen Aufgabe vom Auswendiglernen der 194 Länder auf der Welt widmete. Zu einer Zeit, in der ich all der möglich lebbaren Vitalität gar nicht mehr nachtrauerte – sondern einfach alle Schotten dicht machte und leblos weiter auf der Schulbank sitzen blieb und mein Gehirn arbeiten liess.Als zeitreisende Fee in meiner Super-Rakete könnte ich mich aus dieser Misere natürlich nicht retten. Aber ich hätte vielleicht die Macht, meiner ganzen Schulzeit eine andere, regenbogen-farbigere Note zu geben: In meiner Zeitrakete würde ich auf meiner 14-jährigen rechten Schulter landen um mich dann an mein 14-jähriges Ohr zu hängen und ins Ohr flüstern, dass ich als 43-jährige dieses fantastische Land Madagaskar besuchen werde, dass ich dort sogar als Musikerin Konzerte geben werde - dass dieses Land, Menschen und Abenteuer meine wildeste Vorstellungskraft übertreffen werden und dass mich das Leben darin dermassen durchschütteln wird, dass ich täglich vor Berührung weinen werde. Ich würde ihr davon erzählen, wie die Autos auf der Hauptstrasse Tango tanzen, weil alle Fahrzeuge die vielen Löcher auf dem Asphalt ausweichen müssen. Oder wie die Kinder im Kinderheim, die gar nichts haben - mir alles geschenkt haben. Nicht zuletzt würde ich ihr erklären, dass diese Stadt mit dem schönen Klang, auch so klingt: Dies mit den vielen wilden Pfiffen der Polizisten die versuchen, den Verkehr irgendwie zu regeln und alles noch schlimmer machen. Ich würde ihr auch zwei oder drei traurigere Geschichten aus Madagaskar erzählen und erklären, dass das eben so ist, wenn das Leben in alle Richtungen explodiert. Von der magischen Qualität der Zeit würde ich meinem 14-jährigen ich noch nichts verraten, damit das Leben ihr noch genug Überraschungen um die Ohren hauen kann. Ich stelle mir vor, wie ich nach diesem Offenbarungen auf der Schulbank lächle und wieder zum Leben erwache. Die Schulzeit würde mir nicht mehr so sinnlos, quälend und unendlich vorkommen. Den Leistungsdruck würde ich mit einem schulterzucken abtun, auf dem Schulgang einen Tango tanzen – ganz unbeeindruckt davon, was irgendjemand darüber denken würde. Voller Stolz würde ich einem Leben voller Magie und Überraschungen entgegenleuchten.

Bibi Vaplan

Bibi Vaplan (geboren 1979) ist im Engadin aufgewachsen. Das Klavierstudium an der Zürcher Hochschule der Künste schloss sie 2005 mit dem Lehrdiplom ab. Schon während des Studiums komponierte sie für Filme und Theater (u.a. für Vitus). Stilistische Grenzen waren schon immer ein willkommener Grund, über den Zaun zu schauen. Bibi Vaplans Konzerte und ihre mediale Präsenz, zum Beispiel im «Kulturplatz», bei «Glanz und Gloria» oder auf dem Traktor unterwegs für «Jeder Rappen zählt!» machten die Engadiner Künstlerin schweizweit bekannt. Ihr neuestes Projekt, die «Popcorn-Opera» startete am 6. November 2020.