11.01.2022 Ruth Bossart 3 min
Ein Brücken-Labyrinth führt von der Hochbahn in Bangkok nicht nur über das Chaos am Boden sondern auch zu tollen Überraschungen (Foto: Ruth Bossart).

Ein Brücken-Labyrinth führt von der Hochbahn in Bangkok nicht nur über das Chaos am Boden sondern auch zu tollen Überraschungen (Foto: Ruth Bossart).

Ich bin sicher, Sie kennen den «Bangkok-Trick»; wahrscheinlich unter einem ganz anderen Namen oder vielleicht haben Sie dieses Phänomen auch gar nicht benamst. Unser Schlüsselerlebnis stammt aus der thailändischen Metropole, darum der Name.
Wenn Sie selber schon in Bangkok unterwegs waren, wissen Sie, dass es nicht nur rekordviel Verkehr hat, der sich zu jeder Tages- und auch Nachtzeit erbarmungslos verkeilt, sondern auch eine Hochbahn. Diese auf Betonstelzen gebauten Schienen sind ein Segen, denn sie erlauben den Zugswagons, über der Stadt zu schweben. Sie bringen einem nicht nur in Windeseile, sondern vor allem auch berechenbar von A nach B. Eine Herausforderung besteht aber darin, den richtigen Abgang zu finden. Denn oft führten lange, schlecht markierte Brücken, Spinnenweben gleich, über die Eingeweide dieser Stadt und wehe, man  erwischte den falschen «Arm», so landete man an einem ganz anderen Ort und musste sich dann am Boden mühsam durch Strassenküchen, Verkehrschaos und Gassengewimmel zum eigentlichen Ziel durchsuchen, denn ein Umkehren ist in den meisten Fällen nicht erlaubt. Die Brücken sind quasi «Einbahn». Eine falsche Ausgangs-Wahl kann gut und gerne eine zusätzliche halbe Stunde kosten und vor allem viel Kraft und Schweiss im tropisch heissen Klima. Dennoch ist die Hochbahn praktisch und wenn immer es die Geographie erlaubte – es gibt nur eine Linie und viele Gebiete Bangkoks sind mit der Bahn nicht erreichbar - benutzten wir darum dieses Transportmittel. So wie an diesem Tag, als ich mit meinem kleinen Sohn vom Markt ins Hotel fuhr. Samuel war todmüde, verschwitzt und erschöpft. Und prompt haben wir – Murphys Law – die falsche «Brücke» erwischt und kamen an einem ganz anderen Ort als erwartet auf Grund. «So ein Mist», dachte ich im ersten Moment. Das Kind quengelig und von der Hitze um die letzten Kräfte gebracht und die Mutter ebenfalls. Doch es blieb keine Wahl, als sich auf dem Boden Richtung Hotel aufzumachen. Plötzlich hörten wir statt Töffgeknatter und Automotoren ganz spezielle Töne und sahen eine Menschentraube. Aus ihrer Mitte kam die wunderschöne Musik. Ein Mann stand dort mit gegen 30 grossen Gläsern, die unterschiedlich mit Wasser gefüllt waren. Einem Magier gleich strich der junge Mann über die Glasränder und entlockte ihnen Töne, die auf einzigartige Weise jeglichen Lärm durchdrangen. Wir blieben fasziniert stehen, so wie die vielen anderen Menschen auch und genossen dieses unerwartete Konzert. Verflogen war die Müdigkeit bei Sohnemann, vergessen mein Ärger und die schlechte Stimmung über die falsche Wahl der Ausgangsbrücke, die uns einen ewig langen Umweg bescherte. Nach einer halben Stunde Wasserglas-Konzert spendeten wir dem Musiker ein paar Baht und machten uns aufgeräumt und zufrieden auf die Suche nach unserem Hotel. Das Verkehrschaos konnte uns nichts anhaben und auch die feuchtheisse Hitze war plötzlich viel erträglicher. Fast wie Magie. Und diese Magie ist seither unser mentaler Zaubertrick, wenn etwas – auf den ersten Blick zumindest – schiefläuft: Wenn wir zum Beispiel den Bus verpassen und dafür eine alte Freundin, die wir seit Jahren nicht mehr gesehen haben, antreffen. Oder wenn ich aus Versehen ein Glas Melasse kaufe statt Birnenhonig, bereits alle Läden geschlossen sind und ich meinen Plan, einen Lebkuchen zu backen, an den Nagel hängen muss, stattdessen aber im Internet ein Rezept finde für einen Brotaufstrich, für den man Tahini-Sesampaste mit der Melasse vermischen soll und dabei ein genialer Mix entsteht, der seither auf keinem Z’morgentisch fehlt. 
Der «Bangkok-Trick» ist zu einem festen Bestandteil unserer Familiensprache geworden und heisst übersetzt: Aus einem vermeintlichen Missgeschick entsteht fast immer etwas Gutes. 
Übrigens: Dieser «Bangkok-Trick» ist keine Hexerei. Dieser Zauberstreich braucht nur etwas mentale Flexibilität – und dann wirkt er Wunder - immer wieder.

Ruth Bossart

Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.