08.08.2016 Ruth Bossart 2 min
Ein Heiliger für umgerechnet 12 Franken – Strassenverkäufer bieten am Rande von Demonstrationen Erdogan-Portraits feil.  Fotos: Ruth Bosshart

Ein Heiliger für umgerechnet 12 Franken – Strassenverkäufer bieten am Rande von Demonstrationen Erdogan-Portraits feil. Fotos: Ruth Bosshart

Tatsache ist, dass alle westlichen Länder Reisewarnungen für ihre Bürger erliessen und raten, die Türkei von der Liste der Feriendestinationen zu streichen: Meer und Minarette ja – Terror um Himmels Willen nein. Für mich, die mit der Familie in Istanbul wohnt und arbeitet, sind solche Warnungen seit einem Jahr Alltag. Wir müssen sie ernst nehmen, uns dabei aber nicht verrückt machen lassen. Natürlich haben auch mich die mächtigen Bilder des gescheiterten Militärputsches, der entwaffneten Soldaten und den in Fahnen gehüllten fanatischen Erdogan-Anhängern beeindruckt. Auch ich bekam Gänsehaut, als zehntausende „Allah ist gross“ brüllten und monströse Fahnen mit Hassparolen auf dem Taksim Platz in Istanbul hochzogen. Natürlich gibt es Strassensperren, Scharfschützen, gepanzerte Polizeiwagen in Istanbul und Ankara aber auch in kurdischen Städten des Südostens, wo vor einem Jahr der Bürgerkrieg wiederaufgeflammt ist. Natürlich wurden Selbstmordanschläge verübt.

Doch wer in unserem Quartier entlang des Bosporus herumspaziert, sieht von alldem wenig. Der Bauer mit seinem klapperigen Fiat verkauft seine Tomaten direkt aus dem Kofferraum –so wie immer, unser Barbier um die Ecke schäumt seine Kunden ein wie jeden Tag und der Bäcker verkauft sein Brot. Unser Sohn spielt Fussball in der Nachbarschaft, wir trinken ein Bier um die Ecke, die Stadtgärtner mähen die Rabatten. Normaler Alltag.  Doch diese Normalität sieht niemand. Denn sie findet weitab von TV-Übertragungswagen statt, weg von der Berichterstattung über Ausnahmezustand, Massenverhaftungen von Journalisten und Akademikerinnen und auf Polizeistationen spurlos Verschwundenen. Good News sind No-News – das ist eine zynische journalistische Grundweisheit. Der mediale Fokus ist hauptsächlich auf Aussergewöhnliches, auf Leid, Elend, Gewalt und Unrecht gerichtet. Denn: Wer will Nichtereignisse am TV sehen? Sie? Alltag ist meist keine Story wert, Normalität ist Routine. Elend, Kriegen, Fanatismus und Folter hingegen, denen muss ein Riegel geschoben werden – und darum müssen wir Medienschaffende darüber berichten – sogar wenn die Normalität abnimmt. Genau darum kehren wir Mitte August von Pontresina nach Istanbul zurück.

Ruth Bossart

Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.