06.07.2016 Carla Sabato 4 min
Das Engadin verlassen? Aber bitte nur für kurze Zeit - genau wie das kleine Flugzeug, das sich auf diesem Foto versteckt... Bild: Carla Sabato

Das Engadin verlassen? Aber bitte nur für kurze Zeit - genau wie das kleine Flugzeug, das sich auf diesem Foto versteckt... Bild: Carla Sabato

Wenn meine Eltern früher (in meiner dunklen, pubertären Zeit) vom Engadin als ihrer "zweiten Heimat" schwärmten, hatte ich dafür nur ein Augenrollen übrig. Denn genau diese Schwärmerei führte dazu, dass Familienurlaube grundsätzlich im Engadin verbracht wurden, sowohl im Winter als auch im Sommer, Frühling und Herbst. Während sich Freunde von mir an Sandstränden oder in europäischen Metropolen vergnügten. So kam es mir jedenfalls vor. Die Frage nach dem Warum überging meine Mutter genauso selbstbewusst und galant, wie sie mir ihre Theorie der Baustellen-Gehirne von Jugendlichen zu unterbreiten pflegte. Eine Vorstellung, gegen die ich mich übrigens immer mit Händen und Füssen gewehrt hatte. Zu dieser Zeit fasste ich einen Entschluss: Ich würde niemals ins Engadin fahren, um dort Ferien zu machen, und ich würde meiner Mutter beweisen, dass die Gehirne von Jugendlichen keine Baustellen sind.  Mein früheres Ich wäre bitter enttäuscht, wenn es herausfände, wie die Tatsachen einige Jahre später aussehen: Meine Mutter ist von ihrer Theorie immer noch begeistert, und ich habe gerade ein ganzes halbes Jahr im Engadin verbracht. Schlimmer noch: Ich habe sogar angefangen, das Engadin zu mögen! Denn langweilig war es in dieser ganzen Zeit nie - neben wunderschönen Ski,- Langlauf- und Wandertagen gab es genügend Dinge, die mich auf Trab gehalten haben.  Als Erstes hat das Engadin dafür gesorgt, dass mein "Grüessech" den Inn hinuntergespült und stattdessen von einem hartnäckigen "Grüezi" ersetzt wurde. So weit, so gut. Dann hat es auf den endlos geraden Joggingstrecken meine mentale Motivation auf die Probe gestellt, denn mein Gehirn wiederholte immerzu den gleichen Satz: "Wann ist endlich fertig?" Ausgezahlt hat sich das flache Training aber auf jeden Fall, am Frauenlauf war mein Kopf durch das ständige Auf und Ab wie leergefegt, sehr angenehm. Und das Höhentraining liess natürlich auch grüssen.
Als Nächstes hat mich das Wetter mit einer Kreativität überrascht, die ich nie für möglich gehalten hätte. Schnee im April? Im Mai? Nein, im Juni bitteschön! Als ich das kürzlich einem Bekannten erzählte, meinte der nur lapidar: "Na, das war doch sicher super für die Wirtschaft dort oben, nach diesem Winter!"  Weiter hatte ich die Gelegenheit, mit vielen Silberfischchen Bekanntschaft zu machen, (die bei uns in der Wohngemeinschaft immer folgendermassen willkommen geheissen wurden: "Die Tausendfüssler sind wieder da!"), aber glücklicherweise mit keiner einzigen Spinne. Apropos Wohngemeinschaft: Auch mein ewiges Küchenrätsel verschafft mir noch heute etwas Kopfzerbrechen. Meine Lebensmittel, vorwiegend rote Peperoni, Hüttenkäse, DarVidas, Olivenöl und Äpfel pflegten nämlich öfters ab- oder an seltsamen Stellen wieder aufzutauchen. Zum Beispiel unter dem Sofa. Entweder ist die Anziehungskraft hier oben einfach stärker, oder einige Mitbewohner hatten längere Finger als normal - eins von beiden.
Auch öfters hatte ich hier oben politische Bekanntheiten getroffen - aber leider nie erkannt. Mit hochrotem Kopf und schweissnassen Händen versuchte ich dann immer ihre Aussagen wie "aber ich war doch schon so oft in der Zeitung!" fieberhaft mit einem anderen Thema zu überdecken. Ähem... Bei mir zuhause stapeln sich daher schon die Fettnäpfchen. Aber lassen wir das.  Immer spannend fand ich übrigens auch meine morgendliches Ritual mit einem Engadinbus-Mitfahrer, für das ich noch heute keine Erklärung habe. Dieser sah mich nämlich immer so lange an, bis ich ihm zunickte - das konnte auch mal die ganze Fahrt über bis zum Aussteigen dauern. Immerhin fast 30 Minuten.  Ob ich nach all diesen Erlebnissen auch zu einer Engadinerin geworden bin, wage ich aber definitiv zu bezweifeln. Denn auch mit fast einem Hunderter auf 80er Strecken und mit einem Bündner Nummernschild, werde ich konsequent von anderen Automobilisten überholt. Naja, man kann eben nicht alles haben. Etwas anderes habe ich aber ganz bestimmt: Immer wenn ich nach einer langen Zugfahrt wieder aus dem Waggon steige und mir dieser typische Arvenholzduft in die Nase steigt, dann fühle ich mich, als wäre ich zu Hause angekommen. Sagen Sie das aber bloss nicht meinem früheren Ich weiter. 

Carla Sabato

Carla Sabato ist Studentin, ehemalige Praktikantin bei der Engadiner Post, Hobbyfotografin (liebend gerne in der Dunkelkammer), stolze Vegetarierin, Yoga-Praktizierende, Verfechterin gemässigter Klimazonen, Frühaufsteherin, Hundehalterin, Pragmatikerin, schwarze Rollkragenpullover Trägerin, Teilzeit Existentialistin, Raus-aber-richtig-Frau, schlechte Autolenkerin und Möchtegern-Vancouverite.