21.10.2020 Ruth Bossart 3 min
Win-Win für alle: Fredy Andermatt lässt es sich nicht nehmen, am Buffet zu bedienen. Fotos: Ruth Bossart

Win-Win für alle: Fredy Andermatt lässt es sich nicht nehmen, am Buffet zu bedienen. Fotos: Ruth Bossart

Ich hätte nie gedacht, dass dies menschenmöglich ist. Ein Mann backt Kuchen und kreiert Torten, über 30 Stück, für ein wunderbares Dessertbuffet in einem Engadiner Hotel, ohne die Zutaten abzuwägen oder Rezepte zu lesen. Er hat sie alle auswendig im Kopf, die Mengen für Mehl, Butter, Zucker im Gefühl. Die Rede ist von Fredy Andermatt, einem Zuckerbäcker und Konditor. Einige Male im Jahr sorgt er in einem Pontresiner Hotel für Furore mit seinen Kreationen. Das Buffet wird von den Gästen und ihren Handykameras richtiggehend belagert, und er erhält unzählige Komplimente für seine Kunstwerke: Die Zitronenquarktorte, die auf der Zunge vergeht, den Chocolate Mudd Cake und den White Forest Cake, der eine leckere Abänderung der Schwarzwäldertorte ist oder ganz klassisch, der gedeckte, knusprige Apfelkuchen. Die süssen Kunstwerke sind – wie könnte es bei einem Zuckerbäcker anders sein? – mit unzähligen Schokoladenschmetterlingen und anderen Dekorationen verziert. In diesen Momenten strahlt der Backkünstler und ist ganz in seinem Element. Bevor die süsse Farbenpracht angeschnitten wird, spricht der Hotelier ein paar Worte. Er erzählt zum Biespiel, dass Fredy Andermatt ein Freund von ihm sei, den er vor vielen Jahren auf einem Luxusliner kennen und vor allem schätzen gelernt habe, als er auf hoher See die Gäste der Kreuzfahrtschiffe mit seinen Süssigkeiten verwöhnt habe. Der Hotelchef erklärt den Gästen im Engadin aber auch, dass Fredy Andermatt ein paar Mal im Jahre bei ihm vorbeikomme und praktisch blind sei. In diesem Moment geht ein Raunen durch den Speisesaal, das können viele, die das zum ersten Mal hören, kaum fassen. Regulär kann der heute 59-Jährige nicht mehr arbeiten, praktisch ohne Augenlicht braucht er einiges länger für seine Backkunst, ein normaler Berufsalltag als Zuckerbäcker wäre für ihn nicht mehr zu meistern. In den Akten der IV wird er darum als anspruchsberechtigt geführt. Und das ist gut so. Damit ist Fredy Andermatt finanziell unabhängig. Doch was geschieht mit seinem Talent? Dem Selbstwertgefühl eines Berufsmannes, der nicht nur die ganze Welt bereist hat sondern in Luxushäusern in Asien, Afrika und Südamerika die Gäste verwöhnt hat und der in den 1990er Jahren als der weltbeste Konditor auf hoher See ausgezeichnet wurde? In dem Menschen wie die Hoteliersfamilie Hissung in Pontresina oder andere Schweizer Freunde, die in Kanada eine Lodge besitzen, Fredy Andermatt ein paar Mal im Jahr eine Plattform anbieten, seine Schaffenskraft und Kreativität aber auch seinen Willen zu zeigen, sich nicht vom Schicksal herunterkriegen zu lassen. So entsteht eine unglaublich wertvolle Win-Win-Situation für alle: Das Hotel bietet seinen Gästen ein einmaliges Kuchen-Shangri-la, inspiriert von Kreationen rund um den Globus. Fredy Andermatt umgekehrt erlebt, dass seine Schaffenskraft noch immer geschätzt wird. Gleichzeitig wird der unbeugsame und fröhliche Zuckerbäcker nicht nur bewundert sondern auch zum Gesprächsthema und lässt so den einen oder anderen durch sein Beispiel realisieren, dass es Wege gibt, einem Schicksalsschlag erfolgreich die Stirn zu bieten. Übrigens: Für sein Kuchen- und Tortenbuffet wird der Zuckerbäcker nicht nur mit Komplimenten und Bewunderung entlöhnt. Er bekommt dafür auch Kost und Logis im Hotel – über das Kuchenbuffet hinaus. Und während dieser Zeit geht der Backkünstler einer anderen Leidenschaft nach: Dem Fliegenfischer. Und so sind am Schluss nicht nur die Gäste und der Hotelier mehrfache Gewinner sondern auch Fredy Andermatt.

Ruth Bossart

Ruth Bossart ist Historikerin und lebt mit ihrem Mann und Sohn Samuel seit diesem Frühjahr in Bern. Zuvor berichtete sie für das Schweizer Fernsehen aus Indien. Laufen, Ski- und Velofahren gelernt hat Samuel in Pontresina und Zuoz, bevor die Familie 2010 nach Singapur und später in die Türkei zog. Jedes Jahr verbringen die Drei aber immer noch mehrere Wochen im Engadin – nun nicht mehr als Einheimische, sondern als Touristen.