20.09.2020 Anne-Marie Flammersfeld 2 min
Foto: Filip Zuan

Foto: Filip Zuan

Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen entschuldigen, denen ich jemals im Wald und auf den Trails einen Schrecken eingejagt habe. Es geht hier allerdings nicht um eine exhibitionistische Aufruhr; ganz im Gegenteil. Bei meiner täglichen Laufroutine über Stock und Stein kamen mir gerade in diesem Sommer unglaublich viele Spazierende, Wandernde und Joggende entgegen. Aus dieser Perspektive gesehen erkennen mich die Leute frühzeitig. Fatalerweise renne ich aber auch ab und zu hinter den Leuten, um sie an passender Stelle zu überholen. Bei diesem Tatbestand kommt es dann in der Regel zum grossen Schreckensmoment. Mit sanfter und ruhiger Stimme melde ich mich aus dem Nichts und sage ein freundliches „Grüezi“ oder „Hallo?“. Die Reaktionen der vorauslaufenden Herr- und Damenschaft gleichen jedes Mal einer Explosion. Ein schriller Schrei und ein Sprung entweder in den Graben oder (wenn es sich um Gruppen handelt) gegeneinander. Ich habe jedes Mal das Gefühl, ich hätte mich kurzzeitig in ein Gespenst oder Drachen verwandelt, die man aus den Kinderbüchern von früher doch so gefürchtet hat! Es ist wirklich unglaublich. In solchen Schrecksituationen gibt es keinen klaren Gedanken mehr. Gespräche stoppen abrupt und Überlegungen, welchen Kuchen man auf der Berghütte essen möchte oder was man noch einkaufen muss, sind innert Bruchteilen einer Millisekunde vergessen. Unser Hirn schaltet sich automatisch in den Überlebensmodus. Das Geräusch (in dem Fall ist es eben das Grusswort!) könnte ja eine Gefahr bedeuten. Und im Falle einer Gefahr kennt das Hirn nur „Flucht“, „Kampf“ oder „Sich tot-stellen“. Diese Reaktionen sind ur-ur-ur-alt und das lustige ist, sie funktionieren immer noch gleich. Man meint ja, in unserer heutigen modernen Welt alles kontrollieren und überwachen zu können und ist sich im Wald so sicher dank diverser Apps und Co. Und da tauche ich plötzlich aus dem „Nichts“ auf und erschrecke die Menschen durch mein Grusswort fast zu Tode. Bei all diesen technischen Errungenschaften, Hilfen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und weiteren Absurditäten dürfen wir einfach nicht vergessen, dass wir evolutionsgeschichtlich noch so viele Reaktionen und Verhaltensweisen unserer Vorgänger (waren es die Schimpansen?) in uns tragen und im Grunde genommen doch nur ein laufender Zellhaufen sind. Und wir können uns sicher sein, dass der nächste „Erschreckensmoment“ kommen wird. Freuen Sie sich über diese ur-ur-ur-alte Reaktion und lachen Sie sich über das Mensch-Sein einfach eine Runde kaputt!

Anne-Marie Flammersfeld

Anne-Marie Flammersfeld ist Diplom-Sportwissenschaftlerin, Personal Trainerin und hat einen BSc. in Psychologie. Sie hält einige sportliche Rekorde. So konnte sie 2012 als erste Frau der Welt alle vier Rennen der «Racing the Planet 4 Deserts Serie» gewinnen und lief 1000 Kilometer durch die vier grössten Wüste der Welt. Sie ist in 8h32 auf den Kilimanjaro gelaufen und konnte den damaligen Weltrekord um gute drei Stunden verbessern. Am Nordpol war sie auch und ihr Streckenrekord steht immer noch bereit, um eingeholt zu werden. Die 1978 geborene deutsche Sportlerin arbeitet mit ihrem Unternehmen all mountain fitness in St. Moritz und dem Engadin. Als Personal Trainerin ist sie für alle da, die etwas Nachhilfe in Sachen Bewegung brauchen! Aber immer mit einem Augenzwinkern. Sie hält regelmässig Vorträge zu Themen aus den Bereichen Motivation, Begeisterung und Grenzen überwinden.
www.allmountainfitness.ch
annemarieflammersfeld.blogspot.com