24.02.2020 Riet und Romana Ganzoni 4 min
Foto: Romana Ganzoni

Foto: Romana Ganzoni

Beim Lackieren meiner Fingernägel habe ich mir überlegt, warum ich den Daumen oder besser gesagt: beide Daumen jeweils so lange ausspare, ihn/sie, falls der Lack durchsichtig ist, sogar manchmal vergesse. Ich mache die anderen Nägelchen flott und höre auf. Es sitzt ein Widerwillen in mir, den Daumennagel anzugehen. Ich denke darüber nach, dann plötzlich: Daumennagel reimt sich auf Gaumensegel. Schreibe es auf. Und kehre zurück zu den Nägeln. Frage mich: Warum mag ich den Daumennagel nicht? Das fragte ich mich nicht zum ersten Mal, aber bisher flackerte die Frage nur kurz auf, so lange, bis der Daumennagel dann doch lackiert war. Damit erlosch die Frage wieder. Heute schaute ich meine Hand an, als sähe ich sie zum ersten Mal. Das mache ich ab und zu auch mit Äpfeln oder mit Autos. Ich schaute mir an, wie der Daumen – als einziger Finger hat er eine eigene Bezeichnung – angebracht ist an dieser Hand, wie er sich verhält zu den anderen Fingern, was mir diese Finger (und ihre sehr unterschiedlichen Nägel) erzählen, wie die Fingerreime gehen, weshalb der Nagel des Mittelfingers schneller wächst als die anderen Nägel, was ich mit den Fingern Schmerzhaftes erlebt habe (die Verstauchung beim Ballspiel, ein Schnitt beim Mosten, der Händedruck von Herrn Z.), wo welche Ringe hingehören und weshalb.

Und warum schmeckt die zerlaufene Butter auf dem Teller besser, wenn ich sie vom rechten Zeigefinger schlecke, nicht aber vom kleinen Finger? Oder dieser kognitive Test. Wenn dieser und dieser Finger länger ist als der und der (wegen irgendwelchen Hormonen im Mutterleib, die über dich ausgeschüttet wurden – wie Duschgel, dachte ich), dann bist du voll klug – im rational-europäischen Sinn. Wir wissen: Das ist ein Faktor, der nicht besonders verlässlich ist als Aussage, ob ein Mensch in der Lage ist, eine anständige Rüeblitorte zu backen. Und nur darauf kommt es an! Aber zurück zum Daumennagel. Ich habe ein Gedicht geschrieben über den Daumennagel, vor vielen Jahren. Das kramte ich aus dem Rechner. Im poetischen Daumennagel ist eine Begegnung gespeichert, so schmerzhaft, dass das lyrische Ich versucht, den Nagel so kurz wie möglich zu schneiden. Es will an die Rille gelangen, in der sich die Trauer eingenistet hat, denn sie ist in den Körper gewachsen, in seinen verhornten Teil. Klar, dass der Daumen dabei blutig wird. Was obsessiv vermieden werden soll, wiederholt sich vielleicht. Dann denke ich an den Däumling. An die Daumenlutscher. Gibt es mehr Buben, die Daumen lutschen? Meine Fantasie schlägt Purzelbäume, dann macht sie Platz, es denkt geradeaus, evolutorisch. Der Daumen und die Primaten. Und so weiter. Um alle Ecken. Zu keinem Ende. Das darf ich. Das dürfen alle, die wollen. Ich habe mich schon immer mit solchen Dingen beschäftigt, Dinge, die von Leuten, die sehr erwachsen sind, als nutzlos oder seltsam apostrophiert werden. Kinder, die das machen, werden gerne dazu angehalten, damit aufzuhören, sich mal zu konzentrieren. Pass auf! Aber das Kind konzentriert sich ja grade, auf seine Assoziation, es geht den Dingen auf den Grund, indem es verschlungenen Wegen folgt, ohne eine endgültige Antwort zu formulieren. Es spielt. Spielend umkreist es ein Ding oder ein Thema. Es steckt einen Slalom ab, einen Riesenslalom, oder es bevorzugt die Buckelpiste, dazwischen begibt es sich vielleicht auf eine begriffliche Bergtour, klettert auf einen Baum, fliegt noch eine Runde mit dem Helikopter, fällt in eine Gletscherspalte, baut ein Haus. Das alles hat für Zielbewusste keinen Nutzen, für die Schule ist es unbrauchbar, es wirft auch später (meistens) keinen Profit ab. Deshalb gewöhnt sich der Mensch, der solche Sachen macht, manchmal an, diese Gedanken abzubrechen. Seit ich viel mehr aufschreibe – ganze Romane – erlaube ich mir aber nicht nur, an diesen Dingen exzessiv herumzustudieren, ich halte das Zeug sogar fest. Ich darf das, ich will das, ja ich muss mich mit dem beschäftigen, das mir so viel Lust bereitet. Es ist mein Beruf. Echt jetzt? Ja, wow! Mann-o-Mann-o-Frau-o-Kind-o-Daumennagel, ist das schön! Warum ich einen Widerwillen gegen das Lackieren des Daumennagels empfinde, weiss ich allerdings noch immer nicht. Den Rest habe ich hier aufgeschrieben.

Riet und Romana Ganzoni

Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.