17.02.2016 Carla Sabato 3 min

Ein Blick auf die formidable Wetter-App lässt das Blut wortwörtlich in den Adern gefrieren: -24 Grad Celsius. Meine Mission für diesen Morgen stand fest: Gelange rechtzeitig in die Redaktion und versuche dabei nicht einzufrieren! Fünf Minuten später bin ich ausgehfein. Von oben bis unten in Schals, Mantel, Mütze, Thermounterwäsche, Socken und Handschuhe gewickelt. Natürlich in der herkömmlichen Reihenfolge, keine Angst. Dann folgt der Gang nach draussen. Der erste Atemzug in der arktischen Luft ist so kalt, dass buchstäblich die Nasenhaare gefrieren. In der Luft flimmern wunderschöne, glitzernde Partikel. Um was handelt es sich da eigentlich? Hoffentlich keine Kälte-Halluzinationen. 
Die Kälte fühlt sich allmählich schlimmer an. Jetzt, da ich mich nicht mehr bewege und seit einer gefühlten Ewigkeit auf dem Perron auf den Zug warte. Sogar die elektrische Anzeigentafel scheint zu frieren. Eigentlich blau mit weisser Beschriftung, flimmert sie jetzt in einem ständig wechselnden Punktemuster. 
Ich schaue nach links.
Ich schaue nach rechts.
Fällt es jemandem auf, wenn ich anfange zu hüpfen? Alle anderen wartenden Zugfahrer stehen ganz normal da. Schlimmer noch: Viele tragen Halbschuhe und Jacken, die ich nicht einmal im Unterland während des Winters für angemessen gehalten hätte. Das müssen wohl die wahren Einheimischen sein. Das habe ich übrigens während meines Aufenthalts in Kanada gelernt. Will man auf Anhieb wissen, wer einheimisch ist, dann sollte man auf die Kleidung der Leute achten. Ist die Bekleidung deutlich luftiger, als es dem Klima entsprechen würde, handelt es sich ziemlich sicher um jemanden, der permanent an diesem Ort wohnt. Kanadier laufen übrigens auch noch bei 10 Grad und Regen mit kurzen Hosen und Flipflops durch die Gegend. Ganz davon abgesehen, dass einige davon in der gleichen Ausrüstung Wanderwege hochjoggen, (ja, Sie haben richtig gelesen, hoch) wo andere (vornehmlich Touristen, versteht sich) nach Luft ringend, auf halbem Wege wieder umkehren. Aber zurück ins Engadin. Natürlich gewöhnt man sich irgendwann an ein bestimmtes Klima, trotzdem empfinde ich es immer als leicht zermürbend, wenn Leute zu Gebirgs-Anfängern wie mir sagen: «Ja, so  -30 Grad waren früher ganz normal im Engadin. Das ist jetzt eigentlich gar nicht so kalt.»
Aber sicher. Wobei, ich sollte hier wohl besser nicht vorgreifen. Vielleicht gehöre ich auch schon bald zu den Personen, die Unterländern anhand von kalten Wintern mit Schnee Angst machen werden. Oder meine Gliedmassen werden bis dahin so taub sein, dass es ohnehin keine Rolle mehr spielt. 
Apropos – langsam aber sicher wird es übrigens wirklich kalt. Panik steigt in mir auf. Was ist, wenn ich einfriere, und dann bewegungsunfähig auf die Gleise falle? Genau wie Jack aus dem Film Titanic. Wie er da in der Schlüsselszene auf seinem Brett im eiskalten Wasser hängt, die Haare zu grauen Strähnen gefroren. Und wie er schliesslich, scheinbar eingefroren in die Tiefe gleitet.
Auf Nimmerwiedersehen.
Aber nein, begleitet von der Lautsprecheransage nähern sich von rechts zwei kleine, gelbe Lichter. Der Zug! Nun fühlt sich das Leben gleich nicht mehr so kalt und trist an. Nur als die ganzen Leute aus dem hellerleuchteten Zug in die Kälte aussteigen, mischt sich etwas Mitleid in die Vorfreude auf den warmen Zug.  Am liebsten hätte ich ihnen zugerufen: Möge die Wärme mit euch sein! Flimmernde Anzeigentafeln, glitzernde Morgenluft und panische Titanic- Fantasien. Was einem auf dem Weg ins Büro alles passieren kann. Vornehmlich bei Temperaturen unter Null. 

Carla Sabato

Carla Sabato ist Studentin, ehemalige Praktikantin bei der Engadiner Post, Hobbyfotografin (liebend gerne in der Dunkelkammer), stolze Vegetarierin, Yoga-Praktizierende, Verfechterin gemässigter Klimazonen, Frühaufsteherin, Hundehalterin, Pragmatikerin, schwarze Rollkragenpullover Trägerin, Teilzeit Existentialistin, Raus-aber-richtig-Frau, schlechte Autolenkerin und Möchtegern-Vancouverite.