03.05.2016 Riet und Romana Ganzoni 3 min
Bilder: Romana Ganzoni

Bilder: Romana Ganzoni

Wohin könnte man abhauen, ohne über einen Pass zu fahren? Geschäfte, Restaurants, Bars sind zu, Hotels sowieso, die Freunde über alle Berge. So ist das halt im Engadin. Was nun? Wenn die Natur zickt, der Mensch in die Krise kippt, hilft nur Kultur. Aber was ist das, wenn nirgends ein Konzert geboten wird, kein Theater, die Galerien sind zu – und ich möchte mit Kunst bedient werden? Aus dem Fernseher? Internet? Das Primäre und Naheliegende wäre wohl: Lesen, Musik hören. Ein Bild anschauen. 

Ich schaue ein Bild in meinem Büro an. Eine Votivtafel in Türkis, beim langjährigen Freund Konrad Schmid (Goldschmied und Sammler, Chur) gekauft. Noch ein Bild. Gleich daneben. Die Hinterglasmalerei einer heiteren Maria, die auch Demeter sein könnte, aus Venedig (beim Grandseigneur Pietro Bianchini gekauft, der Konrad Schmid von Venedig). Zwei weiss gerahmte Bilder der peruanischen Künstlerin Annie Flores, eines heisst „El Mago“ (2000), in Kohle, ein Mensch, aus dessen Kopf Flammen sprühen, die Inspiration. Das andere Flores-Bild: Bleistift. Einer Indio-Frau fliessen Buchstaben wie Tränen aus den Augen (2004). Zwischen den Lippen Sprachverlust: Der sichtbare Text ist englisch. Beide Bilder von Flores fand ich vor Jahren bei Silvia Stulz, als sie eine kleine feine Galerie in der Dorfmitte von Samedan betrieb (jetzt stellt sie Jachen Guidon in Madulain aus)

Darunter steht eine kleine Plastik von Giuliano Pedretti aus Celerina. Er schenkte sie mir anlässlich der Geburt unseres dritten Kindes. 

Wenn ich auf den Gang blicke, sehe ich drei grossformatige Fotos einer Muschel in Schwarz-Weiss des einheimischen Fotografen Men Clalüna, Samedan.

Auf der anderen Seite der Holzwand meines Büros Art Brut, René Gertsch verwandt: das beladene Menschenkind, krumm und bloss, gefunden im „Antik-Brocki“ von Gian-Reto Minsch und Regula Widmer, Zernez. Eine Samtrose, sie ist mir in London zugelaufen bei der imposanten Polin Basia Zarzycka, der ich eine Erzählung gewidmet habe. Dann ein junges Mädchen in Öl, auch von Konrad Schmid, Chur. Daneben eine Kaligraphie von Alf Bolt, Champfèr. Der Text stammt von Vargas Llhosa. Ein Gedicht über das Alter. Hinter mir ein Schafs- und ein Schweinekopf aus Gips (Blumengalerie, Claudia Lischer, St. Moritz). Dazwischen ein kostbares Geschenk: der kleine frohe Max Bill, den ein enger Freund 1979 aus Bills Hand empfangen durfte.

Weiter eine Karte der international tätigen Bündner Künstlerin und Poetin Zilla Leutenegger: ein Kran, der den Mond hebt, „Moondiver“ (2015). 

Mit dem Mond hebt der Kran meine Laune. Der Blick aus dem Fenster empfiehlt mir einen ausgedehnten Spaziergang.

 

Riet und Romana Ganzoni

Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.