18.04.2016 Dominik Brülisauer 4 min
Bild: Dominik Brülisauer

Bild: Dominik Brülisauer

Wenn man zwischen Mai und Oktober im Engadin wandern geht, begegnet man früher oder später einem Fischer. Das ist so sicher, wie am Oktoberfest einen Betrunkenen zu treffen oder in der Freikirche einen Leichtgläubigen. Man kann sagen, Fischen ist Fangisspielen für Erwachsene. Gefischt wird aber auf der ganzen Welt. Australier erledigen das mit Dynamit, Japaner mit grossen Harpunen und die Amerikaner rechen mit riesigen Fangnetzen den ganzen Ozean leer. Das ist nicht besonders ökologisch, aber extrem ökonomisch. Jedenfalls noch vorläufig. Ausserdem fischen Germany's next Topmodel-Kandidatinnen und andere Kleinkinder die ganze Zeit nach Komplimenten. 

Der Engadiner verfolgt aber eine andere Philosophie – und die heisst L'Art pour l'Art. Er ist Fliegenfischer und fischt, weil er gerne fischt. Falls er tatsächlich mal einen Fisch herauszieht, freut ihn das zwar, aber nötig ist es nicht unbedingt. Es ist wie bei den Frauen, die gerne Sex haben, aber einem immer wieder versichern, dass ihnen der Orgasmus nicht so wichtig ist. Jedenfalls bekomme ich das ständig zu hören.

Lustig ist, dass Fischer in gewissen Bergseen sogar Fische aussetzen, damit sie diese später wieder rausziehen können. Je nach Lust und Laune wird die gefangene Forelle, die Äsche oder der Saibling einfach nur fotografiert und dann erneut freigelassen. Erklär das mal einem Ausserirdischen. Oder dem Fisch. Der muss sich ja vorkommen wie in einer On-Off-Beziehung à la Justin Bieber und Selena Gomez oder wie ein Tessiner mit seinem Fahrausweis. Wie in der Politik ist auch beim Fliegenfischen das Geschichten erzählen ein elementarer Bestandteil. Wenn ich meinen fischenden Freunden glauben darf, dann hatten sie während ihren Karrieren bereits Nemo, Flipper, Nessie, Moby Dick, Frank Abagnale aus «Catch Me If You Can», diverse Sporttaucher, Arielle und Sponge Bob persönlich an den Angeln. Aus Artenschutzgründen haben sie alle wieder freigelassen und aus Bescheidenheitsgründen darauf verzichtet, Fotos zu schiessen. Sehr edel. 

Wichtig sind für den Engadiner Fischer die intellektuelle Herausforderung, das Duell mit dem Tier und die Einsamkeit in der Natur. Keine Ehefrau und kein Vorgesetzter erklären ihm hier, was er zu tun hat. Höchstens der Fischereiinspektor schaut ab und zu vorbei und kontrolliert, ob er das korrekte Patent gelöst hat und ob sein Flachmann tatsächlich mit hochprozentigem Alkohol und nicht etwa mit harmlosem Himbeersirup gefüllt ist.

Gut getarnt steht er am eiskalten Gewässer, schwingt seine Rute, lässt die Fliege auf die Wasseroberfläche fallen und zieht diese gekonnt zurück ans Ufer. Dabei simuliert er die Bewegungen einer Mücke auf der Wasseroberfläche und versucht dabei, den Fisch zu täuschen. Wenn dieser in den Köder reinbeisst, ist er geliefert. Der Fischer verarscht den Fisch mit seinem Angebot ungefähr so wie Apple die Kunden mit ihren Produkten. Auch die sehen gut aus, aber kaum hat man sich auf sie eingelassen, ist man im Netz gefangen. Ich sehne mich heute nach meinem alten Walkman zurück. Im Gegensatz zu meinem iPhone verlangte dieser nicht alle drei Tage nach einem Update und mein Chef hat mich auch nie am Sonntagmorgen darauf angerufen.

Der Fischer wiederholt dieses Ritual unzählige Male. Dabei ist er der wohl geduldigste Mensch des Planeten. Im Vergleich zu einem Engadiner Fischer wirkt ein meditierender Buddhist so aufgeregt wie Roberto Begnini auf Kokain, der gerade von einem angestachelten Hornissenschwarm attackiert wird. Stunden, Tage, ja Wochen vergehen. Stoisch starrt er ins Wasser. Hinter ihm wandern die Gletscher vorbei. Er lässt sich davon nicht beirren. Ein Engadiner Fischer ist so cool, er könnte mit dem Callcenter der Swisscom kommunizieren, ohne dabei genervt zu werden.

Auch in Sachen Mode lässt sich der Fischer auf keine Sperenzchen ein. Egal, was sonst für Trends herrschen, er bleibt seiner Linie treu. Am liebsten trägt er ein Arrangement aus Gummistiefeln, Watthosen, Gilet und Hut. Jedes Garderobenstück ist in diskreten Naturfarben gehalten. Kein Schnickschnack, nur die Funktion zählt. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass es nur wenige Fischerinnen gibt. Ich wünsche allen Petri Heil.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer