12.08.2018 Dominik Brülisauer 6 min
Bild: Dominik Brülisauer

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Wenn man im Engadin unterwegs ist, dann begegnet man früher oder später einem Surfer. Das ist so sicher, wie man bei den Taliban auf Kopfarbeiter trifft oder auf den Zuschauerrängen an Männer-Synchronschwimmmeisterschaften auf gar niemanden. Im Engadin fühlen sich vor allem die Windsurfer, die Kitesurfer und die Stand-up-Paddler zuhause. Alle Surfarten haben drei Merkmale gemeinsam. Erstens: sie finden alle auf einem Surfbrett statt. Zweitens: alle Surfarten werden von der Werbung missbraucht, weil man mit diesem coolen Lifestyle von Kaugummis über Hypotheken bis zu Seniorenwindeln allen alles verkaufen kann. Drittens: alle Surfer fliegen gerne ununterbrochen um die ganze Welt und erklären zwischen zwei Sessions, dass nur Nachhaltigkeit, Spiritualität und Bewusstsein für die Natur unseren Planeten retten können. Wie du siehst, fallen die Couch- und die Internetsurfer hier schon raus. Couchsurfen und Internetsurfen haben mit richtigem Surfen so viel zu tun wie die Demokratische Volksrepublik Korea mit einer demokratischen Volksrepublik. Die Couch- und Internetsurfer haben einen coolen Begriff geklaut, um eine relativ langweilige Tätigkeit zu dramatisieren. Wenn man von Sofa zu Sofa oder von Website zu Website pilgern als Surfen bezeichnet, ist das ungefähr so frech, wie wenn man Altglas sortieren als Flaschenfreeclimbing, Wäsche zusammenlegen als Textilbungeejumping oder Kreuzworträtsel lösen als Buchstabenrallye-in-einem-brennenden-Auto-mit-Raketenantrieb-auf-einem-Hochseil-mit-einer-betrunkenen-Frau-am-Steuer bezeichnen würde. Aber zwischen den verschiedenen Surfarten gibt es logischerweise auch Unterschiede. Die Windsurfer stehen auf ihrem Brett, halten sich am Gabelbaum fest und bewegen sich dank dem Wind in ihrem Segel vorwärts. Selbstverständlich gehören die Windsurfer des Engadins zu den besten der Welt. Furchtlos trotzen sie den bissigen Forellen, stürzen sich in Wellenberge, die sich je nach Swell durchaus über 500 Millimeter auftürmen können, und sie jagen schneller über die Wasseroberfläche, als der POTUS nach einer Schiesserei in einem Kindergarten eine Schweigeminute ausrufen und einen verharmlosenden Tweet à la «Die halbautomatischen Waffen haben mehr Angst vor den Schülern als die Schüler vor den halbautomatischen Waffen» versenden kann. 
Zu den Höhepunkten des Engadiner Surfjahres gehört der Surfmarathon – der älteste noch existierende Surfevent der Welt. Während Surfer alles bekennende Individualisten sind, die per Zufall alle gleich aussehen, das gleiche Vokabular benutzen und sich sogar an Land allesamt gleich bewegen, hat man als Zuschauer des Engadin Surfmarathons ironischerweise das Gefühl, dass die Surfer eine homogene Masse bilden. Wenn die unzähligen bunten Segel über den blauen Silsersee fliegen, sieht das ungefähr so aus, wie wenn die Navy der Gay-and-Lesbian-Kingdom-of-the-Coral-Sea-Islands ein Manöver ausführt. Dass das Engadin für Windsurfer den gleichen Stellenwert hat wie Mekka für die Moslems oder das James-Blunt-Konzert für vom Leben gebeutelte Hausfrauen, beweist die Tatsache, dass die Szenenikone Robby Naish immer wieder im Tal auftaucht und der 42fache Windsurfweltmeister Björn Dunkerbeck sogar seinen Wohnsitz nach Silvaplana verlegt hat. Kommen wir zum Kitesurfen. Das ist eine Weiterentwicklung des Windsurfens. Auch beim Kitesurfer läuft ohne Wind so wenig wie in Chinesischen Ehebetten nachdem das letzte Nashorn ausgerottet worden ist. Allerdings ist das Kiteboard wesentlich kleiner als das Windsurfboard und das Segel ist viel eher ein kleiner Gleitschirm respektive Drachen. Der Surfer wiederum steht nicht auf dem Brett, sondern er sitzt 99% seiner Zeit im Wasser. Dort versucht er sein Material zusammenzukratzen und die Leinen zu entknoten. Sobald eine Böe kommt, wird der Kitesurfer aus dem Wasser gerissen und jagt über den See. Dank seinem Drachensegel zieht es den Kiter gerne in die Luft. Dort performt er Tricks, die man aus anderen Brettsportarten kennt. Das Problem ist aber, dass wenn Shaun White mit seinem Snowboard einen 360 oder einen Backsideair oberhalb einer eisigen Halfpipe ausführt, sieht das spektakulär aus. Beim Kitesurfer kommt das langweilig rüber, weil er normalerweise für den ganzen Trick 25 Minuten Airtime zur Verfügung hat. Die Kiter stehen hier ein wenig vor dem gleichen Problem wie die Veganer, die ihre spasslosen Imitate Vegane Fleischbällchen, Veganes Würstchen oder Veganes Chilli con Carne nennen. Kiter und Veganer sollten ihre Spezialitäten mit eigenen Namen benennen, die jegliche Assoziationen zum Original vermeiden. Ich zum Beispiel betitle meine Bücher ja auch nicht «Odyssee», «Don Quijote» oder «Der Zauberberg». Aber Kiter lassen sich von solchen ästhetischen Defiziten nicht beeindrucken. Wie die Walker, Microscooter oder die Socken-in-Sandalen-Träger ist ihnen ihr Spass wichtiger als die Meinung der Zuschauer. Und das ist in der heutigen Zeit selten geworden. Den Begriff «Surfen» dehnen die Stand-up-Paddler am weitesten aus. Hier steht der Surfer auf dem Brett und bewegt sich mit Hilfe eines Paddels vorwärts. Man kann ihn eigentlich auch als Gondoliere bezeichnen. Standuppaddeln liegt voll im Trend, ist das perfekte Workout und man braucht dafür so wenig sportliches Talent, dass selbst Endo Anaconda dabei nicht überfordert wäre. Wie du weisst, ist das Engadin ist zwar schön, aber auch schön kalt. In Hawaii plantscht man gemütlich in badewannenwarmem Wasser und perfekten Wellen herum und nennt diesen Badespass Extremsport. Bei uns surft man in einem Kältebereich, der irgendwo zwischen dem absoluten Nullpunkt und der frostigen Temperaturen, die in Wladimir Putins Augen herrschen, liegt. Dazwischen weichen unsere Surfer Eisbergen aus und pfeifen dabei cool die Reggae-Version der Titanic-Hymne «My Heart Will Go On» – selbst im Hochsommer. Nicht selten werden Engadiner Surfer wie gewisse Frösche Anfangs Winter auf der Oberfläche des Sees eingefroren. Normalerweise lässt man sie einfach stecken. Selber schuld, wer das Gefühl hat, er müsse im Engadin keinen Eisbrecher an den Bug seines Brettes montieren. Aber kaum sind sie im Frühling wieder aufgetaut, fahren sie ihren Run zu Ende und gönnen sich im Surfcenter Silvaplana ein kühles Bier. Wer bei uns nach dem Surfen nicht ausschaut wie Jack Nicholson in der letzten Szene von «The Shining», der war nicht lange genug im Wasser und wird als Weichei ausgelacht. Surfergirls nennen wir im Engadin Eisprinzessinen und unsere Surferboys Eiszapfen – du kannst dir bestimmt vorstellen warum. Saisonangepasst tragen die Damen im Winter gerne mal gefütterte Bikinis, die Herren Badeshorts mit modischen Schneekristallornamenten. An unseren Beachpartys unterhalten wir uns mit Schneeballschlachten, Pinguinkegeln und Eiswürfelwettpinkeln. Ein Must für jeden Engadiner Surfer findet jeweils Ende Skisaison auf der Alpina Hütte oberhalb von St. Moritz statt. Beim Surfover treffen sich Surferinnen und Surfer zum fröhlichen Wettbewerb. Ziel ist es, mit Geräten wie Skis, Snowboards, Bügelbrettern, Bigfoots, Schwimmringen oder Schneetöffs mit minimalem Anlauf über ein Wasserbecken zu surfen, dabei viel Haut zu zeigen und eine gute Figur zu machen. Alkohol, stimulierende Musik und die Frühlingstemperaturen sorgen dafür, dass neun Monate später die nächste Generation Engadiner Surfer auf einer Fruchtwasserwelle auf die Welt geritten kommt.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer