29.06.2018 Alexandra Wohlgensinger 3 min
Foto: Alexandra Wohlgensinger

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Diesen Blog schreibe ich für einmal einhändig. Wieso? Weil meine rechte Pfote bis weit über den Ellenbogen hinaus im Gips steckt. Ich habe mir bei einem Contest vor zwei Wochen Elle und Speiche recht kompliziert gebrochen – Glück im Unglück, denn in Anbetracht der Grösse des Sprunges, hätte viel mehr als nur die Pfote kaputt gehen können. 

Der Sprung war massiv – und egal ob vor oder nach dem Unfall bekam ich von vielen ähnliche Reaktionen: „Respekt, einen Sprung dieser Grösse würd ich mich nicht getrauen zu springen.“ „Hattest du denn keine Angst?“ Doch ich hatte Angst. Die ganzen zwei Tage zuvor hatte ich Angst bis hin zum Moment, wo ich den Sprung zum ersten Mal gelandet bin. Und das ist ok. Zuvor musste ich das Risiko abwägen, vergleichen mit Sachen, die ich zuvor gesprungen war und abwägen, ob der Sprung noch immer in meinen Fähigkeiten lag. Und dann, als ich mich entschieden habe, musste ich meine Komfortzone verlassen und auf mein Können vertrauen. Und dabei war immer Angst mit dabei. 

Angst wird in unserer Gesellschaft als etwas Negatives, eine Schwäche, aufgefasst. Dabei ist Angst gut. Als der Neandertaler früher auf der Jagd Angst hatte, vom Säbelzahntiger gefressen zu werden, hat diese Angst seine Sinne verstärkt. Er war fokussierter und konzentrierte sich aufs Wesentliche. Angst hilft dir also, Panik hingegen ist schlecht. Und wenn man eben lernt, das zu unterscheiden, dann kann man Angst als etwas Positives angehen und sie nutzen. Und haben Sie schon mal Angst überwunden? Wie war das Gefühl danach? Super!? Diese Überwindung kann einem zu mehr Freiheit und Unabhängigkeit verhelfen.


Als Risikosportler wird man oft als egoistischer Adrenalinjunkie abgestempelt. Und wie sieht es aber mit den „normalen“ Gesellschaft aus? Immer weniger Menschen sind heute bereit, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Die Scheu vor dem Risiko, das Abgeben von Verantwortung und der Hang zum Nichtentscheiden hat ebenfalls Folgen: Stress bis hin zum Burn-out für den Einzelnen. Vor allem aber führt es zu einer Gesellschaft, in der Innovationen der Vergangenheit angehören.


Risikokompetenz, also das Erkennen und angemessene Beurteilen von riskanten Situationen, ist nicht nur ein Sicherheitsfaktor in der jeweiligen Sportart, sondern lässt sich auch in anderen Lebensbereichen sehr gut brauchen. Im Beruf, in der Freizeit, in der Familie wie in jedem sozialen Umfeld. Risikokompetenz umfasst auch den Umgang mit Situationen, in denen nicht alle Faktoren erkennbar sind und berechnet werden können. Wir sollten uns von der Illusion einer umfassenden Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit verabschieden. Je unberechenbarer eine Situation ist, desto mehr brauchen wir Intuition aus Erfahrung. Und genau diese Flexibilität, lernen wir bei Risikosportarten.


„Alles schön und gut, aber trotzdem sitzen Sie jetzt zu Hause mit einem gebrochenen Arm“, mögen Sie jetzt sagen. „Anscheinend war das Risiko doch zu gross und hätten Sie mal besser auf Ihre Angst gehört.“ Nein. Fehler passieren. Ich habe den Sprung sechs Mal einwandfrei gesprungen und dann beim siebten Mal falsch reagiert. Und falsche Entscheidungen haben bei diesen Ausmassen grosse Konsequenzen. Meinen Unfall habe ich analysiert und daraus gelernt. Aus Fehlern lernt man nur, wenn man sie verstanden hat. Und genau diese Fehler braucht man - um daran zu wachsen.

Alexandra Wohlgensinger

«Riding bikes is my life! Du bist mit Deiner ganzen Aufmerksamkeit nur hier und genau in diesem Moment, in dieser einen Sekunde. Alles was gestern war oder später sein wird, ist völlig egal.»
Nachdem ich mir einen Traum erfüllt habe und zwei Jahre lang mit meinem Bike durch die Welt gereist bin, kam ich wieder zurück ins Engadin, um mich auf meine Rennkarriere zu fokussieren.
Letzte Saison hatte ich genügend Punkte um beim UCI Downhill Weltcup mitzufahren. Sich zum ersten Mal mit den besten Downhillerinnen der Welt war eine unglaubliche Erfahrung.
Um dieses Jahr im Weltcup voll durchzustarten und mich voll auf die Rennen konzentrieren zu können, habe ich meine Stelle als Redaktorin bei der Engadiner Post aufgegeben. Gemeinsam mit Katze «Luna» und meinem Freund, der mich als Mechaniker, Coach und «Männchen-für-alles» unersetzlich bei den Rennen unterstützt, lebe und trainiere ich in Sta. Maria im Val Müstair.
Und wenn wir mit unserem Van «Verity» nicht gerade an einem Rennen oder im Training irgendwo in Europa sind, dann findet man uns ziemlich sicher in unserer so-quasi Zweitheimat Neuseeland.