13.06.2018 Riet und Romana Ganzoni 5 min
Foto: Romana Ganzoni

Foto: Romana Ganzoni

Das Treffen mit Marianne war unverhofft. Ich sah sie vor einigen Tagen in Zürich, an der Station des Elfertrams beim Paradeplatz. Ich hatte am Schaufenster des Blumengeschäfts gestanden und befriedigt festgestellt, dass Claudia Lischer in St. Moritz viel zeitgenössischer arbeitet, mit mehr Flair und Geschick. Der Stolz der etwas gedeckelten und verspotteten Provinzlerin stiegt in mir hoch. Gerade nach dem von der ganzen Schweiz monierten Baukartell im Engadin ist der Mensch aus dieser Region um etwas Zuspruch froh. Lass Blumen über deine kulturelle, sagen wir: Gleichwertigkeit sprechen! Nix da mit Randregion und Bergen, die sich erheben wie Bretter vor dem Kopf, meine Lieben. Am Paradeplatz bietet ihr urbanen Meiner mir nicht, was ich in St. Moritz Bad gewohnt bin. Als ich meine Nase ganz oben trug und damit in bester Laune etwas hin und her spazierte, sah ich sie, ich sah sie zum ersten Mal nach über zwanzig Jahren wieder: Marianne. Sie war energetisch, wie immer, trug Jeans, und das sah nicht nur „für ihr Alter“ gut aus, das sah sehr gut aus. Das Haar etwas zerzaust, wow, locker, ein schönes Gesicht, das immer strahlte, vor allem die Augen, die denen von Bundesrätin Leuthard glichen. Immer kugelrund. Wenn dich solche Augen anschauen, bist du das Zentrum der Welt. Sie hatte nichts verloren in den zwanzig Jahren, die mich von ihr getrennt hatten. Und da ich gut gelaunt und unbeschwert war, weil die hiesigen Blumen-Gestecke weit hinter meinen Sehgewohnheiten zurücklagen, ging ich vielleicht eine Spur zu enthusiastisch auf Marianne zu, begrüsste sie mit Namen und drückte sie gleich an mich. Sie hätte mich nicht mehr erkannt, sagte sie. Wie schön, dass ich sie anspreche. Ihre Augen setzten mich, wie immer, ins Zentrum der Welt, staunten aber auch nicht schlecht. Ich hätte dich nicht erkannt, wiederholte sie. Na na. Da ich Menschen, die ich kenne, anspreche oder grüsse (Warum denn nicht?), konnte ich die Bemerkung nicht ganz einordnen (Sah ich so mies aus?), aber es streifte mich, dass sie es nicht für selbstverständlich hielt, dass man bekannte Gesichter ansprach. Ich bin darin eben sehr provinziell, ich grüsse meistens auch Feinde und Unsympathische. Was wäre mein Leben ohne sie? Eine Wüste. Genau. Marianne liess sich sofort von meinem Enthusiasmus anstecken oder vereinte ihren eigenen Überschwang mit meinem und fand, wir müssten uns morgen treffen. Unbedingt. Uuunbeeediiingt. Ob ich noch da sei. Jetzt umarmte sie mich. Ich sagte, ja. Sie kramte nach der Visitenkarte und kritzelte ihre Mobile-Nummer darauf, ich reichte ihr meine Nummer. Sie wiederholte, morgen sehen wir uns, ja? Ja. Ich hatte eigentlich keine Zeit, aber es war nicht adäquat, das zu sagen. Viel zu provinziell. Dass wir Bergler die besseren Blumensträusse hatten und ich davon meinen Selbstwert ableiten konnte und deshalb jederzeit die Lizenz für ein klares und selbstbewusstes Nein hatte, war mir grade nicht präsent. Ich blieb in der Situation stecken, fühlte mich ein bisschen eingeschneit im Juni. Wie es ihr gehe, wollte ich von Marianne wissen. Beruflich super, sagte sie. Obwohl sie etwas zurückgeschraubt habe. Sie schreibe jetzt ein Buch über Schicksal und Glück. Wow. Sie müsste jetzt eigentlich schreiben und nicht hier stehen. Ich stimmte zu. Das müsste ich auch. Sie überging das. Privat stünde es weniger rosig. Sie machte jetzt grosse traurige Augen. Ich natürlich auch. Hoffe ich. Sie habe nach der Scheidung keinen richtigen Partner gefunden, über ihren Sohn sprach sie nicht, die Tochter sei jetzt branchenfern aktiv, sie habe nicht das Gleiche machen wollen wie die Mutter. Oh, das tue mir leid, sagte ich. Und du?, fragte sie hoffnungsvoll, geschieden? Nein, sagte ich langsam, nicht geschieden. Sie fragte nach, aber ihr hattet doch diese Probleme, oder? Was für Probleme? Warst das nicht du? Ich glaube nicht... Ach. Und hast du Kinder? Ja. Wieviele. Drei. Ach. Ja. Und geht gut? Ja, geht gut. Ich wusste, jetzt hätte ich einen Misserfolg einbauen müssen, einen monumentalen. Und es ist ja nicht so, dass ich keine Misserfolge vorweisen kann, aber mir fiel grade nichts Passendes ein. Mir fiel einzig ein, dass Marianne nach der Trennung von ihrem Mann von einem wesentlich jüngeren Mann, einem Künstler, verehrt wurde. Wenn man irgendwo einen jungen strahlenden Mann sah in einem beigen langen Trenchcoat mit einem riesigen Blumenstrauss, wohl vom Paradeplatz, dann war das ihr Verehrer. Auch sie schien damals Feuer und Flamme zu sein. Warum hatte sie eigentlich keine Liebe mehr gefunden seit der Trennung und wie hing dieses Vergessen zusammen mit dem neuen Buch? Kann man je glücklich werden, wenn man das eigene Glück, das vergangen ist, sich vielleicht in Schmerz verkehrt hat, kleinredet? Ich sagte nichts, aber es fiel mir alles, was damals schief gelaufen ist, ein. Ihre Kleinlichkeit, der Geiz, die Pedanterie. Alles Dinge, die ihrem Beruf sicher nicht geschadet haben. Aber Schicksal? Glück? Mit diesen Haltungen. Ein Buch? Ratgeber sogar? Ich schwieg geniert. Nun kam das Elfertram. Es hielt, und ich stieg ein, dann drehte ich mich um, weil ich davon ausging, dass wir zusammen zum Hauptbahnhof fahren würden, aber sie ging zu Fuss weiter, rief nur noch: War toll! Vielleicht sehen wir uns wieder einmal. Ja, rief ich und winkte. Auf ein nächstes Mal. Ich würde sie wieder grüssen, aber ich würde nicht mehr fragen, wie es ihr geht, sondern einfach loben, was ich sehe.  

Riet und Romana Ganzoni

Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.