23.04.2018 Dominik Brülisauer 6 min
Bild: Dominik Brülisauer

Bild: Dominik Brülisauer

Wenn man im Engadin unterwegs ist, trifft man früher oder später auf einen Fotografen. Das ist so sicher, wie man im Swisscom-Shop auf einen abgezockten Kunden trifft oder in der SBB auf einen Kebab-mit-scharf-und-viel-Gestank-Liebhaber. Das macht viel Sinn, denn schliesslich nennt man Fotografieren ja Malen mit Licht. Und da das Engadin als das Tal des Lichts bekannt ist, ist es selbsterklärend, dass an jeder zweiten Ecke einer dieser Lichtmaler auf den richtigen Moment wartet, um dieses einzufangen, wenn es von einem Bergsee reflektiert wird oder sich an Alpenrosen bricht. Normalerweise benutzt man gerne Jäger-Metaphern, wenn man über das Fotografieren spricht. Man «lauert» auf ein Motiv, «zielt» auf ein Objekt oder «schiesst» ein Bild. Im Engadin hat das Fotografieren allerdings viel eher etwas mit Sammeln zu tun. Schliesslich muss man hier weder lange Suchen noch einen perfekten Winkel finden. Wegen der unvergleichlichen Schönheit der Landschaft ist es bei uns schlicht unmöglich ein schlechtes Bild zu machen. Theoretisch kann man sich irgendwo in die Engadiner Natur stellen, bei seinem Smartphone den Selbstauslöser aktivieren, das Gerät in die Luft werfen, das Resultat ohne es zu kontrollieren auf Instragram laden und zuschauen, wie aus der ganzen Welt die Likes reinfluten. Ich möchte keinem ambitionierten Fotografen zu nahe treten, aber wer im Engadin kein schönes Landschaftsbild machen kann, der schafft es auch nicht auf Mallorca einen kotzenden Deutschen mit Sonnenbrand zu fotografieren. Apropos Instagram, hier noch eine Warnung. Wenn man heute ein Foto auf diese Plattform lädt, hat man die Möglichkeit, sein Bild mit diversen Filtern ästhetisch ansprechender zu gestalten. Diese Filter sind mittlerweile so gut, dass man mit einem Klick aus einem Gölä einen Ryan Gosling machen kann. Wenn man allerdings versucht mit einem Filter ein Foto vom Engadin zu verschönern, überfordert man das System und das ganze Programm stürzt ab. Touristen mit Fotoapparat fühlen sich auf der Bergstation Muottas  Muragl so wohl wie ein Sniper auf dem Kirchenturm. Von hier aus haben sie einen perfekten Blick auf die ganze Seenlandschaft. Aus diesem Grund wurden hier oben schon mehr Fotos vom Engadin gemacht als Terry Richardson von seinem Penis oder Zoë Pastell von sich selbst geschossen hat. Dass auch die Werbefotografen immer wieder auf die Schönheit unseres Tales zurückgreifen, erstaunt niemanden. Kaum ein Fashionbrand kann es sich leisten, eine Winterkollektion auf den Markt zu bringen, ohne diese vorher vor dem Berninamassiv oder auf einem unserer Gletscher abgelichtet zu haben. Hätte Willy Bogner seine Skianzüge konsequent nur bei sich zuhause in München vor dem Hofbräuhaus oder am Oktoberfest in Szene gesetzt, wäre aus ihm höchstens ein unbekannter Apréskimodeschöpfer geworden. Der Vorteil von einem Fotoshooting im Engadin ist auch, dass sich die Auftraggeber die Kosten für die teuren Models sparen können. Wenn man auf dem Plakat im Hintergrund den Piz Palü bewundern kann, braucht das Fotomodel nicht Gisele Bündchen zu heissen. Da reicht selbst eine Schaufensterpuppe oder eine geschminkte Ziege vollkommen aus.   Auch Fotografen mit künstlerischem Anspruch werden bei uns befriedigt. In der Zwischensaison bietet das leere Ferienwohnungsghetto in Celerina die perfekte Geisterstadt-Kulisse für jeden, der auf postapokalyptische Sujets à la «12 Monkeys» oder «I’m Legend» steht. Das Gewerbezentrum in Samedan wiederum vermittelt eine eher urbane Atmosphäre und lässt jedem Hip-Hop-Fotografen aus der Bronx seinen Herzbeat erhöhen. Beeindruckende geometrische Sujets für konstruktivistische Fotografen liefert das Kieswerk Montebello. Dabei muss man sagen, dass der Name Montebello ungefähr so ironisch zu verstehen ist wie wenn die Israeliten ihre trostlose Steinwüste das Gelobte Land nennen, in dem Milch und Honig fliessen. Auch die Tierfotografen kommen im Engadin auf ihre Kosten. Beim Wandern trifft man auf Gämsen, Hirsche, Adler, Füchse oder Muskelkater – höhöhö. Hier zwei Gratistipps für angehende Tierfotografen. Gratistipp Nr. 1: Von offizieller Seite heisst es, man solle cool bleiben, wenn man auf einen Bären trifft. Komischerweise schaffen das nicht alle.Wenn du auch zu den Leuten gehörst, die bei einem Bären nur die rasiermesserscharfen Krallen und nicht die herzigen Augen sehen, dann kann es sein, dass du im entscheidenden Moment zittrige Hände bekommst. Deshalb solltest du im Engadin beim Bären fotografieren immer ein Stativ dabei haben. Gratistipp Nr. 2: Fotos von Kreuzottern, die müde in der Sonne herumliegen, gibt es schon mehr als genug. Gib deinen Bildern einen eigenen Charakter indem du dem Tier vor dem Abdrücken noch einen modischen Schnauz ins Gesicht zeichnest oder ihr einen lässigen kleinen Sonnenhut aufsetzt. Eine schöne Bildserie könnte sein, wenn du die Schlange zu Buchstaben formst und daraus deinen Namen oder ein Wort wie «Tierwürde» schreibst. Selbst bequeme Tierfotografen, also solche, die sich nicht allzu sehr bewegen möchten und am liebsten vom Liegestuhl aus Hausspinnen und Gartenschnecken ablichten, kriegen es im Engadin auf die Reihe, Steinböcke zu fotografieren. Das liegt daran, dass die lokale Steinbockszene mittlerweile gerne vor den Dörfern abhängt und regelrecht das Rampenlicht sucht. Beispielsweise die Pontresiner Steinböcke als kamerageil zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Aus den scheuen Tieren von damals sind Irina Bellers geworden, die sich vor jede Linse werfen, in der Gegend rumstolzieren und alle Passanten, die kein Selfie mit ihnen schiessen wollen, total verständnislos angaffen. Tierisch tolle Bilder schiesst auch die Fotofalle im Nationalpark. Füchse, Wölfe und Bären haben schon den Aufnahmemechanismus ausgelöst. Ihre Bilder sind auf der Website des Nationalparks gelandet. Ob die Persönlichkeitsrechte der Tiere dabei mit Füssen getreten werden oder ob sie dazu ihre Einwilligung gegeben haben, wollte mir niemand beantworten. Die Tiere werden übrigens mit leckerem Hirschkadaver angelockt. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis eine ausgehungerte Kandidatin von «Germany’s next Topmodel» geknipst wird, wie sie sich über das Festessen hermacht. Zum Glück wissen die Pontresiner Steinböcke nichts von diesem Fotoautomaten. Sie wären schon lange in den Nationalpark gezogen und die Kamera wäre nach zwei Tagen an einem Burnout draufgegangen. Früher gab es im Engadin noch die Skipisten-Knipser. Diese sind auf den Bergstationen auf wildfremde Leute zugegangen und haben mehr oder weniger diskret ein Foto von ihnen geschossen. Dann haben sie ihren Opfern eine Visitenkarte in die Hand gedrückt und gehofft, dass diese ihnen später ihre Bilder abkaufen. Seit Anbruch des Smartphone-Zeitalters ist dieser Berufszweig allerdings verschwunden. Die Skipisten-Knipser sind schliesslich alle bei Kantonspolizei Graubünden gelandet. Die Skifahrer haben zwar jetzt ihre Ruhe, nicht aber die Autofahrer. Wer jetzt von ihnen geblitzt wird, muss bezahlen, ob ihm das Foto gefällt oder nicht. Ich persönlich bin übrigens auch ein passionierter Fotograf. Auch ich schiesse am liebsten Fotos von mir selber – und zwar egal, wie schön die Landschaft rund um mich herum ist. Allerdings scheint etwas mit meiner Kamera nicht zu stimmen. Das Sujet wirkt immer ein wenig unterbelichtet.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
facebook.com/dominikbruelisauer