28.11.2017 Gianna Olinda Cadonau 4 min
Aragorns Schlachtruf am Schwarzen Tor: «A day may come when the courage of men fails, when we forsake our friends and break all bonds of fellowship, but it is not this day».

Aragorns Schlachtruf am Schwarzen Tor: «A day may come when the courage of men fails, when we forsake our friends and break all bonds of fellowship, but it is not this day».

Es ist aus unserer Welt verschwunden, das Pathos, zumindest aus meiner. Einfach so erlebe ich es nicht, ausser natürlich in Filmen, ich mag nun mal von Zeit zu Zeit eine Heldengeschichte, mit Aufrufen zusammenzustehen gegen dunkle unterdrückende Mächte, mit von Metaphern überlaufenden Reden vor wichtigen Entscheiden und Schlachten – halt einfach solche, die mit der grossen Kelle angerührt sind. Wenn Pathos aber plötzlich mitten in einem meiner Tage auftaucht haut es mich um. Nicht in eindeutigem Sinne, nein, nicht mit genüsslicher Rührung, sondern auf ganz konfuse Art und Weise. Ich weiss dann nicht wohin mit meinen Gedanken, ertrage es kaum, finde es oberflächlich und billig, finde das dann wiederum auch blöd und komme regelmässig zum Schluss, dass ich einfach nicht der Typ bin, der sich für Pathos eignet. Ich zögere aber einen Augenblick, weil ich mit diesem Schluss durchaus nicht so sicher bin, wie ich gerne wäre. Gut, gehen wir dem auf den Grund.
Die Bedeutung von Pathos hat sich einige Male verändert und erst die heutige gibt mir zu denken. Gut, welche auch sonst. Ich kann ja schlecht sagen, dass, würde ich zu Aristoteles Zeiten leben, ich mit der symphonischen Wucht surselvischer «Remas», der Zelebrierung ihres Sängers und Komponisten, der schwelgerischen Stimmung einer Fasnachtseröffnung und anderen triefenden Reden weniger innere Konflikte hätte als heute. Damals nämlich bezeichnete Pathos eine von drei rhetorischen Überzeugungsmitteln, nämlich die emotionale Ausrichtung der Rede auf das Publikum hin, während Ethos die Überzeugungskraft, die aus der Integrität des Sprechers herrührt meinte und Logos die Argumente aus der Sache selbst. Ich wäre demnach damals nicht nur mit Pathos, sondern auch mit beiden letzteren rhetorischen Mitteln überzeugt worden, hätte ich denn überzeugt werden müssen. Kulturelle Anlässe, wie die oben angetönten Beispiele es sind, möchten ja nicht immer und ausschliesslich sein Publikum von einer Sache überzeugen, dafür hat die Gesellschaft andere Mittel, Orte und Stimmbänder. Sie möchten berühren, anregen, in Frage stellen und sicher noch vieles mehr. Dafür ist Pathos als emotionales Überzeugungsmittel in Aristoteles Manier nicht unbedingt schlecht, im Gegenteil. Und so hilft mir dieser Denker beim Ergründen meines Unwohlseins nicht wirklich weiter. 
Vielleicht hilft Schiller. Bei ihm ist das Pathetisch-Erhabene in jener Kunst zu finden, die Leiden oder überwundenes Leiden darstellt. Während das Wort páthos griechisch noch Schmerz und Leiden selbst bedeutet, bezeichnet es hier nur noch den dargestellten Effekt, dieses Schmerzes und seiner Überwindung. Ja, das ist schon eher hilfreich. Schliesslich begegne ich Pathos fast ausschliesslich in der Kultur – in ihrem engeren und weiteren Begriff. Ist das, was Pathos bezeichnet dann noch echt, wenn es nur die Darstellung des Leidens meint? Und damit nähere ich mich auch schon der heutigen Bedeutung, die Pathos, oft abwertend, mit einer gewissen Künstlichkeit verbindet. Der Duden fügt noch «feierliches Ergriffensein, leidenschaftlich-bewegter Gefühlsausdruck» hinzu. Was habe ich jetzt von diesem kurzen Ausflug zu Wikipedia und – immerhin – zur Seite 1128 meines Deutschen Universal Wörterbuchs? Ja doch, ich habe in der Begriffsdefinition die Wörter gefunden, die mir dieses diffuse Unwohlsein bereiten: eine feierliche, leidenschaftlich-bewegte, wenn möglich noch leicht künstliche Angelegenheit. Klingt eigentlich nicht so verwirrend. Ich glaube, was mich verwirrt ist eher, wenn das ganze noch ganz und gar ernst gemeint ist, sich sozusagen selbst erhöht, das Feierliche mit Leidenschaft und ernster Erhabenheit. Mich sozusagen zu über-überzeugen versucht, so dass ich mich jedesmal mit überkreuzten Beinen aufrecht am vorderen Stuhlrand wiederfinde, anstatt genüsslich zurückgelehnt. Und ohne genau zu wissen, was das alles über mich selbst aussagt, wende ich mich jetzt wieder den unpathetischen Dingen zu, weil es jetzt auch mit diesem Schreiberei darüber reicht. Sonst laufe ich noch Gefahr pathetic zu werden, englisch für armselig, erbärmlich. Und herzergreifend – immerhin. 

Gianna Olinda Cadonau

Gianna Olinda Cadonau (*1983) befasst sich mit Kunst und Kultur. Die romanische fördert sie als Kulturverantwortliche bei der Lia Rumantscha, die Graubündnerische als Mitglied der kantonalen Kulturkommission und diejenige für die kleine Bühne als Co-Leiterin des Kulturorts La Vouta, Lavin. Schreibend, singend und Butoh tanzend gibt sie sich ihr auch selbst immer wieder hin. Zwischendurch und währenddessen lebt sie mit ihrer Familie in Chur.

Foto: Yanik Bürkli, Bündner Tagblatt