10.09.2017 Dominik Brülisauer 7 min
Bild: Dominik Brülisauer

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Wenn man im Engadin unterwegs ist, begegnet man früher oder später einem Bergsteiger. Das ist so sicher, wie man auf Elitepartner.ch auf Soziopathen trifft, die ihr ganzes Leben ihrer Karriere untergeordnet haben und jetzt mitten in der Midlife-Crisis plötzlich davon überzeugt sind, dass sie doch noch ihre Gene weitergeben müssen, weil das Wohl der Welt bestimmt von ihrem Nachwuchs abhängt.
Einen Bergsteiger erkennt man am Seil, das er auf seinen Schultern trägt, den Steigeisen an seinem Rucksack, dem Eispickel in seiner Hand und an seinem modisch fragwürdigen Outfit. Letzteres liegt daran, dass ein vernünftiger Bergsteiger beim Kauf seiner Klamotten mehr auf die Funktion als auf die Ästhetik achtet. Obwohl wir heute in der Lage sind, Quantencomputer zu bauen, bringen wir es noch nicht fertig, Bergsteiger cool aussehen zu lassen. Man wird eher ein Einhorn, eine schwarze Blackbox oder einen nüchternen Franzosen sichten, als einen Bergsteiger, dessen Kleidungsstücke farblich zusammenpassen oder Schnitte aufweisen, die aus dem aktuellen Jahrhundert stammen. Im Vergleich zu einem Bergsteiger beweist sogar Chris Martin von Coldplay ein besseres Gespür für seine Garderobe – und der sieht normalerweise aus wie ein Chamäleon auf LSD, dessen Farbzellen total verrückt spielen.
Die Unlust der Bergsteiger sich visuell ansprechend zu kleiden, hat damit zu tun, dass Bergsteigen ursprünglich ein ziemlich einsamer Sport war und man in den Bergen herumirren konnte, wie man gerade wollte. Aber heute, in Tagen des Massentourismus, sollte man schon ein wenig auf sein Äusseres achten. Das finde ich jedenfalls. Schliesslich dauert es nicht mehr lange, bis man auf dem Piz Palü an einem Automaten ein Nummernticket ziehen muss, das einem sagt, in wie vielen Minuten man über den Grat auf den Gipfel steigen darf. Da bleibt in der Warteschlange genug Zeit, andere Bergsteiger zu inspizieren. Und wer weiss, wenn man nicht gerade gekleidet ist wie jemand, der tatsächlich ausschliesslich Berge und auf keinen Fall Menschen besteigen möchte, findet man vielleicht sogar einen Seilpartner fürs Leben – oder immerhin eine Wärmequelle für die nächste Nacht in einer SAC-Hütte.
Die SAC-Hütte ist der Ort, an der die meisten Bergtouren im Engadin beginnen. Meine Überzeugung ist eigentlich, dass Bergsteiger ihre Touren immer an der tiefsten Stelle des Marianengrabens oder zumindest ab Meereshöhe starten sollten. Schliesslich beginnt der Berg technisch gesehen dort. Wenn man damit angibt, dass man einen 4000er bestiegen hat, in seiner Heldengeschichte aber nicht erwähnt, dass das Basislager bereits auf 3784 m ü. M. lag und dieses bequem mit der Seilbahn erreichbar war, der erzählt meiner Meinung nach nicht die ganze Wahrheit – sondern nur 6.3% um genau zu sein. Das ist nicht besonders viel. Im Vergleich dazu könnte man sogar das Gesicht von Donald Trump mit gutem Gewissen auf die Etikette eines Wahrheitsserums knallen.
Unsere Bergsteiger wandern einen Tag vor der grossen Tour bereits auf die Tuoi-, Coaz- oder Forno-Hütte. Am Abend lassen sie sich mit Rösti und Spiegelei verwöhnen und legen sich nach einer fröhlichen Runde Tschau-Sepp und Rivella-Rot im Massenschlag unter eine beissende Wolldecke und versuchen einzuschlafen. Weil zu diesem Zeitpunkt aber bereits mindestens vier andere Personen im Raum so laut am Schnarchen sind, dass man eher in der vordersten Reihe bei einem Rammstein-Konzert seine Ruhe finden könnte, flucht man darüber, dass man wieder zu lange aufgeblieben ist. Man schaut auf die Uhr und realisiert, dass es bereits 20:38 Uhr ist. Verdammt. 
Weil jeder erfahrene Bergsteiger weiss, dass man sich vor allen anderen Schnarchern hinlegen muss, ziehen sich die ersten bereits am frühen Abend in ihr Bett zurück. Logischerweise sind sie dann kurz nach Mitternacht total ausgeschlafen. Und weil es auf so einer Hütte um diese Zeit nicht besonders viel zu tun gibt, startet man halt bereits seine Tour. Man nennt das Alpine Bettflucht. Natürlich erklärt man allen Leuten, die vom Bergsteigen keine Ahnung haben, dass man um diese gottlose Uhrzeit aufgebrochen ist, weil dann der Schnee noch stabil, das Geröll noch festgefroren und die bissigen Murmeltiere noch am schlafen waren. Aber das glaubt ja niemand im ernst.
Auf dem Weg zum Gipfel geniesst man die frische Luft im Gesicht, beobachtet, wie im Osten langsam der neue Tag anbricht und bedauert, dass man vor dem Abmarsch nicht doch noch zum siebten Mal nach dem Nescafe das Plumpsklo konsultiert hat. Ab und zu schaut man runter ins Tal und denkt daran, dass die Leute da unten im Dorf alle noch friedlich am schlafen sind. Jetzt fühlt man sich so richtig erhaben. Man gehört nicht zu den faulen Pennern, nein, man gehört zu den Machern, zu den Unternehmern und zu den Abenteurern – zu den Magellans, Amundsens und Armstrongs dieses Planeten. Jedenfalls geht es mir immer so.
Dank dem Weltumsegler Ferdinand Magellan weiss die Menschheit endgültig, dass die Erde rund ist. Die meisten Menschen akzeptieren diese Tatsache. Ausser vielleicht ein paar religiöse Spinner und Renzo Blumenthal, der sich fragt, warum sie dann nicht wegrollt. Der Norwegische Polarforscher Roald Amundsen erreichte als erster den Südpol und hat festgestellt, dass man von dort aus nicht in den Süden fahren kann, um seinen Urlaub in der Wärme zu verbringen. Und als Neil Armstrong auf dem Mond gelandet ist, hat er uns zur Erkenntnis verholfen, dass dessen Sichel nicht so scharf schneidet, wie es von der NASA ursprünglich angenommen wurde. Dass alle diese Expeditionen die Menschheit in irgendeiner Form weitergebracht haben, während meine Bergtour auf den Piz Morteratsch nur dazu dient, alle meine Freunde als faule Rumhänger zu deklassieren, das spielt keine Rolle.
Das Besondere am Bergsteigen ist, dass man sich auf dem Gipfel für die vollbrachte Leistung beglückwünscht. Man muss aber keine Bergsteigerschule mit Summa-cum-laude abgeschlossen haben, um zu wissen, dass man auf dem Gipfel erst die Hälfte der Tour hinter sich hat. Nicht mal die Fussball-Unfairplay-Legende Diego Costa wäre so arrogant, seinen Kollegen vom FC Chelsea bei einer Führung nach 45 Minuten bereits zum Sieg zu gratulieren. Wer schon mal von einem Berg heruntergestiegen ist, der weiss, dass das der anstrengende Teil ist, obwohl man die Gravitation jetzt auf seiner Seite hat. Einen Berg hinunterzusteigen, das ist für die Knie ungefähr so belastend ein Gammablitz für die Augen oder Francine Jordi für die Ohren. Aus diesem Grund stehen auf ganz vielen Bergen Gipfelkreuze. Das Foltersymbol steht als Warnsignal dafür, dass die Tortur erst jetzt beginnt. Jesus hat damals auch irrtümlicherweise gedacht, dass der Weg auf den Golgota der schlimmste Teil seines Tages wird. Allerdings haben ihm die sadistischen Römer auch zugeflüstert, dass er oben angekommen dann easy ein wenig rumhängen kann.
Im Engadin stehen vielleicht nicht die höchsten Berge der Welt – aber definitiv die schönsten. Aus diesem Grund möchten auch alle mal da oben stehen und das gesamte 360-Grad-Panorama bestaunen. Draufgänger nehmen die Gipfel mit Flipflops und Hawaii-Hemd in Angriff und lassen sich irgendwo auf halber Strecke mit der Rega wieder zurück ins Tal fliegen. Seriösere Touristen nehmen die Dienste eines einheimischen Bergführers in Anspruch. Kein anderer Beruf bietet uns Engadinern so viele Aufstiegsmöglichkeiten – hehehe. Deshalb gehören unsere Bergführer zu den besten der Welt. Ja, mit ihnen kommt man überall rauf. Ein Engadiner Bergführer könnte Sportmuffel Jack Black auf den Piz Bernina, einen Helene-Fischer-Fan auf den guten Geschmack oder mich auf eine gute Pointe bringen.

Dominik Brülisauer

Dominik Brülisauer ist 1977 geboren und in Pontresina aufgewachsen. An der ZHDK in Zürich hat er Theorie für Kunst, Medien und Design studiert. Momentan arbeitet er als Werbetexter, Kolumnist und Schriftsteller in Zürich. Die Bücher «Schallwellenreiter», «Der wahre Liebeslebensratgeber» und «Leben kann jeder» sind im Handel erhältlich. Er besucht das Engadin heute noch regelmässig um im Pöstli Bier zu trinken, auf der Diavolezza zu Snowboarden und um seiner Mutter seine Wäsche abzugeben.
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